14.07.2024, 11:00, Brenda Guesnet

IKOB Podcast - apropos #13 EAT THE RAINBOW↓︎

In dieser Folge 'apropos' haben wir für euch eine Reportage aus dem IKOB-Ferienatelier 2024 aufgenommen. Die Sendung hat zwei Teile: zuerst hört ihr Interviews mit drei Kunstwerken aus der aktuellen IKOB-Ausstellung EAT THE RAINBOWLe Madame (Brussels 1981-1983) (Vase) (2019) von Marnie SlaterHommage An Michelangelo Und Die Unvollendeten (2006) von Bärbel Schulte Kellinghaus und Wirtschaftswunder (2016) von Monika Radhoff-Troll.

Im zweiten Teil schalten wir uns live zur Straßenreportage am Tag nach der weltweiten Machtübernahme der Kinder. Wie sieht diese neue Welt aus? Was ist mit den Schulen passiert? Welche Rolle spielen nun die Erwachsenen? Und wird es auch weiterhin Sushi geben?

Vielen Dank an unsere apropos-Gastredaktion: Elsa, Lenia, Mila, Liam, Noah, Romi, Yanna

Mit musikalischen Einlagen aus der Musikredaktion des Ferienateliers:

Just a Girl - No Doubt
Dance the Night - Dua Lipa
SDP feat. Sido - Ne Leiche
Das Müll-Lied - Andrea Zenk, interpretiert von Jürgen Fastje
Kids - MGMT

Hosted by Studio Néau.

07.06.2024, 08:45, Frank-Thorsten Moll

Painters Unite – Über die Kraft der Malerei in kraftlosen Zeiten am Beispiel von Yann Freichels↓︎

Drei Personen unklaren Alters, zwei davon eher unbewegt-statisch, eine mit deutlichem Bewegungsdrang Richtung linke Bildmitte, ein Tisch mit diversen Objekten, ein Wein- und ein Bierglas, ein Messer, ein Brot, eine Schüssel und ein Sack mit Salz am Boden, sowie zwei schwebende Symbole, eine Person mit Federschmuck eine Pfeife haltend und ein Totenkopf mit Säbeln. Das ist die kurze Bildzusammenfassung von Kids Unite, einem Diptychon von Yann Freichels, dem jungen Maler aus Ostbelgien, das viele seiner aktuellen malerischen Strategien auf den Punkt bringt.

Seine Malweise ist direkt und wird oft als „kräftige Figuration“[i] bezeichnet, seine „archaischen Figuren“[ii] erzählen keine endgültige Geschichte, denn seine Malerei ist nicht narrativ. Laut der Kunstkritikerin Sandra Caltagirone wirkt „jede Figur, jedes Kostüm, jedes Accessoire und jeder Schriftzug [wirkt] wie ein Symbol, das mehrere Bedeutungen hat. Ihre Kombination nährt die Zweideutigkeit und vervielfacht die Interpretationsmöglichkeiten“[iii]. Der in Lüttich an der Académie Royale des Beaux-Arts ausgebildete Maler begegnet dieser vielfach festgestellten Zweideutigkeit mit einer intelligenten Strategie der Information und Verrätselung. So schrieb er über Kids Unite, dass hier offenkundig die Menschen lieber woanders als am Tisch seien, eventuell weil dieser durch die Fülle an Gegenständen zu voll sei, um eine Diskussion entstehen zu lassen. Welche Diskussion er genau meint bleibt offen. Und auch mit dem Hinweis, dass Brot, Wein, Messer, Bier, Salz und eine Schüssel im Bild zu sehen sind, liefert er nicht mehr an Information als nötig. Bei allem handelt es sich zudem um Objekte, die stark mit dem erzählerischen Repertoire unserer Kultur verbunden sind. Sicher denkt man beim Stichwort Schüssel am Boden sofort an die Bibel und die unzähligen Fußwaschungen darin. Aber es schwingen auch Erzählungen aus den armen Milieus der Arbeiter des späten 18. Jahrhunderts mit, wo die Schüssel zum Ausweis von systemischer Armut und Verwahrlosung wurde. Mit Salz und Brot, nutzt er zudem die elementarsten Lebensmittel schlechthin, die eine Fülle von Assoziationen auslösen. Bier und Wein? Auch diese Getränke sind vieldeutig, können sie doch als zivilisatorisches Gleitmittel, das Freude und Einigung genauso wie Streit und Diskussion befeuert gedeutet werden.

All diese, der Sphäre des Dinglichen und somit des Kulturellen zuzuordnenden Objekte, konzentrieren sich in der rechten Bildhälfte. Eine Person, eine Kristallkugel tragend, strebt weg von diesem Tisch, um sich den anderen beiden Figuren zu nähern. Diese dominieren durch eine intelligente Komposition die gesamte linke Bildhälfte. Die Figur ganz links schaut in Richtung der Betrachter:innen, ihr Blick ist jedoch nicht direkt, er weicht aus und richtet sich nach schräg oben. Schaut sie ins Leere oder wird sie gerade Zeugin einer Erscheinung? Bei Freichels könnte alles der Fall sein, denn sein Repertoire an Referenzen ist undogmatisch, frei und assoziativ. Die zweite Figur steht als leicht gedrehte Rückenfigur im Bildvordergrund. Sie schaut die andere Person links von ihr direkt an und leitet damit den Blick der Betrachter:innen ins Bild. Auf der Lederjacke dieser Person ist der Schriftzug „Kids Unite“ zu lesen. Er prangt wie der Name eines Motorradclubs auf der Jacke und gibt dem Diptychon seinen Titel. Diese Worte werden in vielen Punksongs genutzt. Eine Suchanfrage im Internet bestätigt dies. So singen „Sham69“ von „If the kids are united“ und unter dem Slogan „Angry kids unite“ findet sich eine Kompilation von 12 Punksongs. Gleichzeitig war „Kids united“ (mit einem „d“ am Ende) eine sehr erfolgreiche Kinderpopband aus Frankreich, die zwischen 2015 mit ihrem Erstlingsalbum „Un monde meilleur (A better world)“ Goldstatus erlangten. Beide Systeme, Punk, wie auch Pop, beziehen sich in einer dialektischen Opposition eng verbunden, auf ein altes Narrativ – dem der Gemeinschaft von Kindern, die den Wandel hervorbringen können, zu dem die Erwachsenen (aka das Establishment) nicht in der Lage sind, oder nicht in der Lage sein wollen. Kinder als Motor der Rebellion? Kinder als Hüter der reinen Wahrheit? Kinder als ahistorische und daher unbelastete Wesen? All das lässt an Romantik, dritte Moderne, Befreiungspädagogik und das 19. Jahrhundert denken, aber eben auch an Greta Thunberg mit „fridays for future“, oder die sogenannte „Letzte Generation“. Letztgenannte Bewegungen, sind aus diesem Geist entsprungen und werden als Symbol eines Generationenkonflikts gelesen, in dem es um die wesentlichen Fragen unserer Zeit geht. Wie gehen wir mit unseren Privilegien um? Sind wir bereit zur Wahrung dieser Privilegien wesentliche Aspekte unserer Zivilisation zu Opfern, wie Rationalismus, Moral und Demokratie? Doch zurück zu Freichels. Kids Unite möchte natürlich nicht als Kommentar zu Greta Thunberg verstanden werden, da eine Malerei mit derartigen Ambitionen, letztlich nur Karikatur oder Propaganda wäre. Was Freichels jedoch auf imposante Art und Weise gelingt ist es eine bildgewaltige Allegorie auf den Gemütshaushalt einer jüngeren Generation ins Bild zu setzen. Dabei lässt er Raum für Komplexität und Widersprüchlichkeit und bietet Anschlüsse für verschiedene Interpretationen. Schlüssel zu diesem Bild, kompositorisch, wie inhaltlich ist sicher die Glaskugel, die die bewegte Figur zu den anderen beiden Protagonist:innen trägt. Handelt es sich um ein Orakel? Liegt die Weisheit der Welt in dieser Kugel? Ist es ein rationales Medium oder ein Medium des Okkulten?

In der Unbeantwortbarkeit dieser Fragen sehe ich die Qualität der Malerei im Allgemeinen und der Malerei von Freichels im Besonderen. Sie nährt sich aus einer plakativen Komplexität, einer Art Brennglaseffekt in den widersprüchlichen Tendenzen unserer Gegenwart gebündelt und auf einen Punkt konzentriert werden. Der Rauch, der beim Brennglas entsteht, hat auch in Kids Unite eine Entsprechung. Bei Freichels gibt es immer wieder Elemente im Bild, die als Emblem, oder als Bildzitat für andere Kontexte funktionieren und dem Dinglichen des Bildes eine Metaebene hinzufügen. Wie ein Fenster, das sich öffnet und den Blick auf eine Welt hinter der Welt offenbart. Für mich sind der Kopfschmuck tragende Pfeifenraucher aus der Zigarettenwerbung und der Totenkopf solche Raucheffekte. Sie sind was entsteht, wenn eine Kultur im Brennglas gebündelt wird und im Rauch Dinge zu Tage treten, die im Alltag nicht sichtbar, oder überdeckt waren. So sehe ich in der Figur des indigenen Pfeifenrauchers den offenen Rassismus, der seit Jahrhunderten Garant für die Unterdrückung und Ausbeutung indigener Bevölkerungen und die damit einhergehende Ausbeutung derselben auf der ganzen Welt war. Durch den Totenkopf mit den Säbeln kommt eine weitere Symbolik ins Bild. Das Piratensymbol kann nämlich, seit den neueren Studien von David Graeber[iv] auch als Gegenentwurf zur kolonialistischen Moderne gelesen werden. Piratismus als basisdemokratischer Ansatz einer Gesellschaft, die den imperialistischen Kräften ihrer Zeit etwas entgegensetzte. Seit diesem Buch träumen viele von den lange untergegangenen Sagen umwobenen Piratenmonarchien als utopische Sehnsuchtsorte für eine Gegenwart, der so langsam die Sehnsuchtsorte auszugehen scheint. Und plötzlich keimt Hoffnung auf in einem Bild, dessen gedeckte und mit grau durchzogenen Fleischfarben, eher düster daherkommen. Der Maler unterstreicht damit formal die Ambivalenz allen Tuns. Er zeigt eindrücklich seine Meisterschaft darin mit einzelnen Motiven ganze Deutungsuniversen zu erschließen.

So malt er in Ohne Titel (2022) ein Mobile mit sechs Sternen, die addiert mit ihren eigenen Schatten eine Gruppe von zwölf Sternen ergeben. Die Lichtquelle, die den Schatten produziert wird nicht definiert, sie ist genauso Außen-vor wie die Betrachter;innen, die das Bild anschauen. Zwölf Sterne sind auch auf der Flagge der Europäischen Union. Und wieder öffnet sich ein Füllhorn möglicher Denkrichtungen hin zu Vergemeinschaftung, Universalismus und Problemlösungskompetenz. Dazu passt der "römische" Helm am Boden, der vom Künstler mit Sankt Martin in Verbindung gebracht wird, einem Heiligen, der anders als die meisten anderen nicht für sein Martyrium, sondern für seine Taten zu Lebzeiten heiliggesprochen wurde. Wird hier die „vita activa“ einer Hannah Arendt herbeizitiert? Oder verweist der Künstler auch auf den Niedergang eines Weltreichs, das letztlich an seinem eigenen Erfolg und seinem Glauben an den universellen Charakter ihrer Zivilisation zerbrochen ist? Und wieder ist er da, der Kippmoment im Werk Freichels in dem das Kartenhaus der Interpretation zusammenfällt. Doch was wie künstlerischer Interpretationsvandalismus anmutet, ist, anders als man denken könnte, der Ort aus dem Freichels Werk seine Kraft bezieht.

Theodor Adorno schrieb 1951 in seine Schrift Minima Moralia den wunderschönen und ewig gültigen Satz „Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“[v]. Er schrieb dies im amerikanischen Exil, als er über die Bedingungen des Menschseins unter kapitalistischen und faschistischen Verhältnissen nachdachte. Der oft unterschlagene Untertitel des Essaybandes lautet „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Mir kommt es so vor als träfe dieser Untertitel auch auf Freichels Kunst zu.

[i] Roger Pierre Turin, Les Figurations Corsée de Yann Freichels, in: Arts Libre, 22. September 2021

[ii] Sandra Caltagirone, Strates Lacunes et Reprentirs, in:

[iii] ebenda

[iv] David Gaeber, Pirate Enlightenment, or the Real Libertalia, New York, 2023

[v] Theodor Adorno, Minima Moralia. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 22. Auflage 1994, hier: S. 298

12.05.2024, 11:55, Brenda Guesnet

IKOB Podcast - apropos #12 Sehnsucht mit Yann Freichels↓︎

Wer bist Du wenn Du malst, Yann?

In dieser Folge 'apropos' bekommt ihr einen Briefwechsel zwischen dem Künstler Yann Freichels und IKOB-Direktor Frank-Thorsten Moll zu hören. Es geht um die Malerei an sich: wie sie sich anfühlt, was sie mit der Zeit macht, ihre Beziehung zum Körper und zum Kopf. Außerdem: Musik und das Mythos des Malergenies. Wie gewohnt mit musikalischen Einlagen inspiriert vom Inhalt des Gesprächs.

Yann Freichels ist einer der vielversprechendsten jungen Talente aus Ostbelgien, der mit dem Blick eines Malers auf die Gegenwart schaut und sich dabei der Malweisen seiner Vorgänger:innen bedient. Ironisch und mit viel Sprachwitz seziert er die deutsche Malereigeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. 

Dieser Podcast erscheint im Zusammenhang mit Yann Freichels Einzelausstellung DANS L’EMPIRE DE L’EMPEREUR TOMATO KETCHUP, von 26.03.–09.06.2024 im IKOB zu sehen.

YANN FREICHELS (*1996) lebt und arbeitet in Grüfflingen, Belgien. Er schloß 2020 seine Ausbildung in Malerei an der « École supérieure des arts de la ville de Liège » (ESAVL) ab. Seine Werke wurden in Einzelausstellungen in La Comète (Espace 251 Nord) in Lüttich, Belgien, der Saarländischen Galerie in Berlin, Deutschland, und der KABK in Oudenaarde, Belgien präsentiert. Unter seinen Gruppenausstellungen zählen "Yann Freichels & Jean-Baptiste Vandevelde" in Gevaertsdreef 01, Oudenaarde, Belgien, "Prix Collignon" im La Châtaigneraie Centre Wallon d’art contemporain, Flémalle, Belgien, und "Private views" kuratiert von Yves Randaxhe in La Boverie, Liège, Belgien. Seine Arbeiten sind auch in öffentlichen Sammlungen vertreten, darunter die Collection de la communauté germanophone de Belgique und die Collection artistique de la province de Liège.

Stimme: Benjamin Fleig

Bild: Yann Freichels, Auch ohne Märchen, Tempera und Öl auf Leinwand, 2022-23. Foto: Lola Pertsowsky

Trackliste:

L'empereur Tomato-Ketchup - Bérurier Noir
Artists Only - Talking Heads
The Red Crayola - Born in Flames
Lucy in the Sky with Diamonds - The Beatles
Meet James Ensor - They Might Be Giants
Pfirsiche - Brannten Schnüre
Denkmal - Wir Sind Helden

Hosted by Studio Néau.

10.03.2024, 11:55, Brenda Guesnet

IKOB Podcast - apropos #11 Garten sprengen mit Veronika Eberhart↓︎

In dieser Folge ‘apropos’ nehmen wir euch mit auf eine Reise nach Los Angeles und tauchen ein in die Welt des Films Garten sprengen (2022) der Künstlerin Veronika Eberhart. Garten sprengen hat als Ausgangspunkt die Biografie des Komponisten Hanns Eisler (1898 – 1962) und seine Exiljahre in Kalifornien während des Zweiten Weltkriegs. Die Künstlerin führt uns durch die verschiedenen Schauplätze und Zeitlichkeiten des Films: das legendäre Biltmore-Hotel, die Traumfabrik Hollywood damals und heute, die Anhörungen europäischer Intellektuelle durch das Komitee für unamerikanische Umtriebe, und vor allem die Kompositionen Hanns Eislers, von denen ihr einige im Laufe der Sendung hören könnt.

Dieser Podcast erscheint im Zusammenhang mit Veronika Eberharts Einzelausstellung “Garten sprengen”, die vom 12.12.2023 bis 10.03.2024 im IKOB zu sehen war.

VERONIKA EBERHART (*1982 in Bad Radkersburg, Österreich) verfolgt bei ihrem künstlerischen Schaffen einen disziplinenübergreifenden Ansatz, der Video, Klang, Performance und Skulptur kombiniert. Ihre Arbeiten wurden in Institutionen wie im Belvedere 21 in Wien, in der Kunsthalle Wien, im Kunstraum Niederösterreich, CalArts, Los Angeles, und Mackey Garage Top des MAK Center, Los Angeles ausgestellt.

Trackliste:

Eislermaterial: Vom Sprengen des Gartens - Heiner Goebbels, Ensemble Modern & Joseph Bierbichler
Vom Sprengen des Gartens - Hanns Eisler
The Soup Song - Hanns Eisler
Axel F - Harold Faltermeyer
Rise Up - Hanns Eisler
In Praise of Learning - Hanns Eisler
I Am Pentagon - The Make-Up
United Front - Hanns Eisler
Eislermaterial: Vom Sprengen des Gartens - Heiner Goebbels, Ensemble Modern & Joseph Bierbichler

Hosted by Studio Néau.

06.02.2024, 12:05,

Curating the Frontier↓︎

In 1979, director Andrei Tarkovsky released Stalker. At its core, the film is a journey into the Zone, a mysterious space that promises to fulfil the desires of those who traverse the border of it. The Zone is a physical manifestation of the characters’ innermost wishes. The journey becomes a metaphorical quest for self-discovery, prompting viewers to reflect on their desires and the potential consequences of pursuing them. Accordingly, spatial borders are deprived of their divisive relevance and become impossible to govern, and the Zone becomes a space for reflection. The frontier undergoes a metamorphosis, transforming into a diluted and filtered interstice. 

The semantic field within which the notion of border operates is porous and permeable. A line of contact and separation at the same time, the border is the result of a process of stratification and materialisation. Like a criterion for the allocation of jurisdiction, the constitution of the frontier responds to a particular attempt at positioning and ordering. Connatural to the organisation of space is the organisation of time: the linearity of the one corresponds to the linearity of the other. 

By disarming the predatory agency of spatiality, we could sublimate the notion of the frontier into that of intersection, accordingly interrogating the sense of linear and strict temporality. Within it, remote futurities and proximate pasts fluctuate to enable a volatile landscape not restrained by the geometry of space. It would be an attempt at a phantasmatic historiography, a critique of existing notions of temporality.  Like the Zone, the Institution could become a platform where the only existing division is between the inquiries posed and the responses generated. The frontier could become a collaborative space to embody and distill the complexities of contemporary reality, fostering an environment that transcends conventional categorisations.

The curatorial, in its essence, is an intervention based on temporality. It simultaneously inhabits the past and the future. It is the promise of a world-making project in which the materiality of the contingent is crossed and transcended, and so is the stringent, tight geometry of the here-and-now. The curatorial inhabits the mobile and prospective dimension of possibility and desire; it becomes the institutive dimension of urgency, not the constitutive response to an emergency. Shifting away from the epistemic hegemony of the centre, in the perpetual relationship of reciprocal integration between contingency and immanence, the curatorial constitutes itself as a radically different law. This law knows no legislation or jurisprudence. The curatorial becomes a process, pure becoming; it is not-yet-here. It will never be.

"One begins to open up a whole series of questions, one sends them off into the world, and you do not then envision in advance either their conclusion or their final product", says Irit Rogoff.

23.01.2024, 11:55, Brenda Guesnet

IKOB Podcast - apropos #10 Remix mit Roman Lang↓︎

In dieser Folge ‚apropos‘ ist IKOB-Direktor Frank-Thorsten Moll im Gespräch mit dem Künstler Roman Lang. Zentral ist dabei das Thema Remix, als Konzept und Methodologie: wie richtet Lang seine Kunst nach dem Prinzip des Remixens aus? Welche musikalischen und visuellen Einflüsse sind ihm besonders wichtig? Und ist das Remixen nicht eigentlich die Grundlage für jede Gegenwartskunst?

Dieser Podcast erscheint im Zusammenhang mit Roman Langs Projekt „Everything is a Remix“ das Ende 2023 im IKOB stattfand.

Über Roman Lang:

Auf den ersten Blick würde man Roman Langs Arbeit in den kunsthistorischen Kanon der Farbfeldmalerei, des Hardedge oder der konkreten Kunst einordnen. Schaut man jedoch näher hin, erkennt man, dass die Arbeiten zwar mit diesen Anleihen spielen, ästhetische oder kompositorische Verweise aber ganz selbstbewusst mit Einflüssen aus der Popkultur und digitalen Welt verweben. Seine Malereien übersetzen digitale Phänomene wie z.B. einen Glitch ins Analoge, High- und Low Materialien werden kombiniert. Durch das Remixen von Materialien und Verweisen entstehen neue Bildwelten und Assoziationsspielräume. Besonders in seinen Papierarbeiten zeigt sich die Verhandlung und bewusste Nutzung von Remix-Culture. Lang sammelt Flyer und Poster, die Konzerte, Ausstellungen oder auch mal die Eröffnung eines Friseurladens bewerben. Er zerschneidet sie, re-arrangiert sie und fügt sie durch gemalte Flächen und Linien zu einem neuen dynamischen Bildganzen.

Roman Lang, geboren 1976 in Neumarkt/Oberpfalz, lebt und arbeitet in Bonn und Belfast (UK). Er studierte an der Akademie der Bildenden Künste München als Meisterschüler von Prof. Ben Willikens und war Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen institutionellen Ausstellungen gezeigt, u.a. im Kunstmuseum Celle; Museum für Konkrete Kunst, Ingolstadt; Kunstmuseum Gelsenkirchen; Kunstverein Mönchengladbach; der Generatorenhalle Viersen; dem Museum Kunstpalast, Düsseldorf; sowie jüngst auch im The Suburban, Milwaukee (US) und im Verein für aktuelle Kunst Ruhrgebiet in Oberhausen. Roman Lang ist in großen Sammlungen vertreten, wie der Graphothek, Stuttgart; HVB Kunstsammlung, München; Robert-Bosch-Stiftung, Stuttgart; Sammlung Philara, Düsseldorf; Museum für Konkrete Kunst, Ingolstadt und dem IKOB Museum, Eupen (BE).

www.roman-lang.com

Bild: Roman Lang

Trackliste:

Fehlfarben - Die Kunst des Zitats
Beastie Boys - Pass the Mic
Public Enemy - Brothers Gonna Work It Out

Sonic Youth & Cypress Hill - I Love You Mary Jane

Nirvana - Come As You Are
Slime - Legal, Illegal, Scheissegal

Beastie Boys - An Open Letter to NYC

Hosted by Studio Néau.

16.01.2024, 11:55, Brenda Guesnet

IKOB Podcast - apropos #9 On the bus w/ Marcin Dudek↓︎

Diese Ausgabe von apropos ist in englischer Sprache // This episode of apropos is in English

This episode of 'apropos' is a live interview with artist Marcin Dudek, recorded on a bus ride to the opening of his exhibition AKUMULATORY at IKOB, moderated by Brenda Guesnet (Curator, IKOB, Eupen) and Zuzanna Rachowska (Assistant Curator, Extra City Kunsthal, Antwerp).

In his work, Marcin Dudek (*1979, Kraków, PL) weaves together memories of his youth as part of the Polish generation that came of age after the dissolution of the Eastern bloc with a critique of society’s dependence on spectacle, power, and aggression. Working across installation, performance, sculpture, and painting, he uses found and salvaged materials, slicing and welding them together in an anti-readymade approach.

The bus trip brought a group of Marcin's friends and fans from Brussels to the artist's concurrent solo exhibition "The Group" at Extra City Kunsthal in Antwerp and then onwards to IKOB. In his talk, Marcin opened up about memories of other crazy bus rides during his time as a hooligan in Poland, connections between fanaticism and religion, feeling trapped between two worlds and the power of art to make a direct impact on people's lives.

AKUMULATORY is on view at IKOB from 19.09. to 26.11.2023.

Marcin Dudek studied at the University of Art Mozarteum, Salzburg, AT and Central Saint Martins, London, UK graduating in 2005 and 2007 respectively. Recent solo exhibitions include NEOPLAN, Edel Assanti, London, UK (2023); “THE GROUP, Kunsthal Extra City, Antwerp, BE (2023); ULTRASKRAINA, Centre Wallonie-Bruxelles, Paris, FR (2021); SLASH & BURN II, Harlan Levey Projects, Brussels, BE (2021); THE CROWD MAN, MWW Wrocław Contemporary Museum, Wroclaw, PL (2019); and THE LURE OF THE ARENA, MNAC National Museum of Contemporary Art, Bucharest, RO (2019). Selected group exhibitions include ART OF THE TERRACES, Walker Art Gallery, Liverpool, UK (2022); COLLAPSING, TEA Tenerife Espacio de las Artes, Santa Cruz de Tenerife, ES (2022); 8th Biennial of Painting, Museum Deinze and Museum Roger Ravel, Deinze, BE (2022); FUCK YOU, Kunstenhuis Haralbeke, BE (2021); DOPPELGANGER, Entreprendre & KANAL-Centre Pompidou, Brussels, BE (2021); PSYCHIC WOUNDS: ON ART & TRAUMA, The Warehouse, Dallas, US (2020); and “GIOCHI SENZA FRONTIERE, Palazzo Mazzarino, Manifesta12, Palermo, IT (2018). Dudek’s work is included in international collections including MWW Wroclaw Contemporary Museum, Wroclaw, PL and National Museum of Contemporary Art, Bucharest, RO. Dudek lives and works in Brussels.

All tracks are from the album Pornografia by Defekt Muzgó.

Special thanks to Olivia Perce (Studio Marcin Dudek), Harlan Levey Projects and Extra City Kunsthal.

Image: Exhibition view, Marcin Dudek, Baryzc, 2023 © IKOB - Museum of Contemporary Art, Photo: Lola Pertsowsky

Hosted by Studio Néau.

05.10.2023, 12:10, Frank-Thorsten Moll

Nous sommes Atoll: Ein paar unsortierte Gedanken zum Tod von Jürgen Claus↓︎

Jürgen Claus starb dieses Jahr im Alter von 88 Jahren in Aachen. Seine letzte museale Einzelausstellung hatte im IKOB 2018 stattgefunden und seither war er dem IKOB und seinen Mitarbeiter:innen eng verbunden. Diese Verbundenheit war getragen von seiner besonderen Art mit Menschen umzugehen. Er war unvoreingenommen, aber nicht ohne Vorurteile, herzlich, aber nicht naiv, lustig, aber nicht spöttisch. Er konnte auch herrisch und fordernd sein, dies war jedoch nur eine der vielen Rollen, die er sich im Laufe seines langen und wechselhaften Lebens angeeignet hatte. Jürgen Claus war Professor, Maler, Strippenzieher, Vernetzer, Kunstkritiker, Autor, Ehemann, Selbstdarsteller. An ihm konnte man sehen, dass solche Rollen gleichermaßen als Ballast und Überlebensstrategie funktionieren können und jederzeit einsatzbereit waren, wann immer er sie brauchte.

Als Kriegskind hatte er gesehen, was der Mensch an Schaden anrichten kann und wurde vielleicht genau deshalb zum Künstler. Hier war es ihm gestattet, etwas aus dem Nichts zu erschaffen und mit Leben zu füllen. Kunst fragt nicht nach dem „es ist schon immer so gewesen“ und auch nicht nach Stand und Status seiner Agent:innen und darum tat es Jürgen Claus auch nicht. Die Kunst war sein System, dem er sich mit Haut und Haaren verschrieben hatte und dem er bis in den Tod treu geblieben ist.

Ich nannte ihn zumeist „Herr Professor“ und er revanchierte sich mit einem „Dr. Moll“. Er wusste natürlich, dass ich keinen Doktortitel besaß, das störte ihn aber auch nicht weiter. Denn er verlieh ihn mir ja regelmäßig – honores c(l)ausa sozusagen. So war er! Er war spendabel und großherzig und er mochte alle, die ihn mochten, also auch mich.

Sein Künstlersein kam jedoch zunächst auf Umwegen zu ihm. Er studierte Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in München und schlitterte in die Kunstszene Westdeutschlands, die zu jener Zeit nervös vibrierte und aus sich heraus drängte. Die Zero-Künstler:innen und ihre Vor- und Nachfahr:innen hatten es ihm besonders angetan. Mit Otto Piene war er eng befreundet und so wunderte es mich auch nicht sonderlich, als ich erfuhr, dass dieser zusammen mit Nam June Paik in Jürgens Raerener Atelier saß und über die kommende Berufung ans MIT in Boston diskutierte.

Bevor diese Generation die Institutionen eroberte, drängte es sie zunächst auf die Straßen und an die entlegensten Orte der Welt. Sein wahrscheinlich erfolgreichstes Buch „Die Expansion der Kunst" brachte dies auf den Punkt. Die Kunst expandierte, sie war überall zu allen Zeiten und in allen Medien und Jürgen Claus war mittendrin. Medienkunst, Sound Art, Happening – er wusste alles zu bedienen, war zumeist den anderen um Jahre voraus, hatte aber dennoch oder gerade deswegen nicht den großen Durchbruch.

Die Konsequenz war jedoch zu keiner Zeit der Rückzug, sondern immer der kraftvolle Ausweichschritt. Wohin? Ins Meer, bzw. in die Meere. Unter Wasser war der Ort, wo seine Kunst bei sich und er bei ihr sein konnte. Flüchtig, aber eindrücklich baute er Situationen unter Wasser, von denen oft nur Fotos, manchmal Filme und noch öfter Skizzen übrigblieben. Im Meer sammelte er Kraft und Energie und entwickelte immer größere Pläne. Harald Szeemann schlug er für dessen documenta 5 eine riesige Tauchkugel vor, die dem achten Weltwunder der Künstlergruppe Gelitin von der Expo 2000 vieles – wenn nicht alles – vorweggenommen hätte. In Kassel wurde sein Projekt nicht realisiert. Seine Reaktion? Er verließ erneut die Kunstwelt und zeigte einen Prototyp einfach auf der Bootsmesse in Düsseldorf. Sein Publikum fand Claus überall und daher war man auch nirgendwo vor seinen Interventionen sicher.

Ging es um seine ambitionierten Projekte, kam des Öfteren der Konjunktiv ins Spiel. Man könnte es bauen, man würde sich melden, man hätte es gerne gemacht … Jürgen waren diese Stimmen egal. Eines seiner größten Talente lag in seiner Fähigkeit, dem Konjunktiv geschickt auszuweichen. Hätte Harald Szeemann ihn nur zur documenta 5 geholt, … ja was dann? Ich behaupte, es wäre alles genauso gekommen, wie es gekommen ist. Er wäre ausgewichen und hätte einfach andere Bastionen eingenommen. Der spektakuläre Ausweichschritt war seine Signatur. Systemisch gesprochen, war ihm das Außen immer verheißungsvoller als das Innen, der Rand interessanter als das Zentrum. Seine vielfältigen Rollen halfen ihm dabei, sich immer genau dort einzurichten, womit er sich zwar einerseits zum Außenseiter machte, aber zu einem der bestvernetzten Außenseiter, den ich bisher in der Kunstwelt kennengelernt habe. Er blieb der Expansion der Kunst immer treu, als Künstler, Autor, Kunsthistoriker, Aktivist und Privatier.

Auch Karriereratgeber gehörte zu seinem Repertoire. „Schreib mehr, du musst dir einen Namen aufbauen“ war einer seiner wiederkehrenden Ratschläge an mich. Ich nickte und wusste, dass keiner so viel schreiben konnte, wie Jürgen Claus, der noch mit 87 einen Nachruf auf seinen Freund Peter Weibel geschrieben hatte, nachdem er mit 86 sein letztes Buch auf Englisch mit einem Verlag in Singapur publiziert hatte. War kein Verlag zur Hand, zögerte er nicht lange und tat es einfach selbst. Seine Bücher erschienen oft in kleiner Auflage als Edition. Die Grafik war fast immer von ihm selbst in einer unbeschreiblichen Ästhetik, die kein Designer hätte reproduzieren können, zu selbstbewusst mischte er Fonts und Abbildungen. Zu retrofuturistisch seine Farben und Formen.

Seine Ausstellung im IKOB 2018 nannte er „Je suis Atoll“ und zitierte damit eine Aussage Paul Valérys, der damit in einem Brief an André Gide seine Selbstwahrnehmung als Autor, Philosoph und Dichter beschrieb. Ein Atoll ist ein ringförmiges Riff, in der Regel ein Korallenriff, das eine Lagune umschließt. Das Besondere an Atollen ist dessen gleichzeitige Ab- und Aufgeschlossenheit. Oft bilden Atolle biologische Mikrosysteme aus, die zwischen Innen und Außen vermitteln können. Die Grenze zwischen Innen und Außen ist dabei oft durchlässig und kaum sichtbar.

Autark und resilient – so sind Atolle und so war Jürgen Claus. Der Titel der Ausstellung wurde damit zu einem Bekenntnis und Lebensmotto. So war auch seine Ausstellung: einerseits ausufernd, überbordend, selbstreferenziell und gleichzeitig kommunikativ, einladend und konzentriert. Die Ausstellung hätte der Auftakt vieler anschließender Ausstellungen werden können, aber es ist nicht mehr dazu gekommen. Dem Konjunktiv des „hätte können“ wich Jürgen Claus aber erneut gekonnt aus. Er malte, bzw. collagierte Bilder, die sein Verhältnis zu den alten Meistern in den Fokus nahmen. Die letzte Schaffensphase war sicherlich eine der konzentriertesten. Der Wunsch diese in einem Museum in den Niederlanden oder Belgien auszustellen ist ihm verwehrt geblieben, stattdessen sortierte er seinen intellektuellen und künstlerischen Nachlass, der sich nun im ZKM in Karlsruhe befindet.

Aber vielleicht war es ihm ja nie um Erfolg, sondern ums Machen selbst gegangen. Das Privileg, das er am heftigsten verteidigt hätte, war das Privileg Künstler sein zu können. Sein letzter Ausweichschritt führte ihn dann auch konsequenterweise in das Reich des Todes. Ein Schritt, dem er wie allem mit Neugierde und Witz begegnete. Lieber Jürgen, ich schließe diese kurze Liebeserklärung mit der Adaption deines Ausstellungstitels und sage leise „Nous sommes Atoll“ – du wirst uns fehlen!

Hier finden Sie Informationen zur Ausstellung „Je suis Atoll“.

Einen Gratis-Downloadlink zu dem ausstellungsbegleitenden Bulletin finden Sie hier.

Im Online-Shop des IKOB finden Sie zudem zwei exklusive Zeichnungen des Künstlers zum Vorzugspreis von 200 EUR (zzgl. Versandkosten).

21.08.2023, 11:55, Brenda Guesnet

IKOB Podcast - apropos #8 Barbie w/ Angyvir Padilla↓︎

Diese Ausgabe von apropos ist in englischer Sprache // This episode of apropos is in English

In this episode of 'apropos', we talk about the piece of plastic that has been making people feel things for more than 60 years: the Barbie doll – and, more specifically, the new Barbiefilm directed by Greta Gerwig. Together with artist Angyvir Padilla we reminisce about early Barbie memories, make connections between Barbie and artmaking (could Barbie be an artist?!) and unpack some of the controversy surrounding the film. Along the way, enjoy musical breaks with our very own Barbie tracklist featuring Georgia, SOPHIE, Grimes, Blondie and more.

This episode appears in connection with the group exhibition ALL OUR YESTERDAYS, featuring works by Lili Dujourie, Sophie Nys and Angyvir Padilla. On view at IKOB from 02.05. - 27.08.2023.

Angvir Padilla (*1987 in Caracas, Venezuela, lives and works in Brussels) creates immersive installations that distill the concept of "home" as an intimate place and relate this concept to people and nature. Padilla's artistic training took place in Belgium, first at ARBA in Brussels (2011-12), then at ENSAV La Cambre (2012-15) and Luca School of Arts (2016-18). In 2020 she was the third winner of the ArtContest and in 2021 she won the first prize of the Friends of the S.M.A.K.. Other presentations have taken place at the Krasj Festival in Ninove (2022), the Ithaka Festival in Leuven (2019), CIAP, Genk (2022), the S.M.A.K Museum and Cas-co Leuven (2018), while she has also made a name for herself internationally with exhibitions in Paris, Dunkerque, Belgrade, Athens and Caracas. She recently completed the Fiminco Foundation residency program in Paris.

Hosted by Studio Néau.

Featured tracks:

Euphoric - Georgia
California - Grimes
Untitled - Domino Hex
SOPHIE - Immaterial
Heart of Glass - Blondie
The Only Place - Best Coast
It's My House - Diana Ross
Luna - Domino Hex
Barbie Girl (mixed) - Aqua

31.07.2023, 10:20,

Marina Abramović und ihre Jünger:innen↓︎

Die Schlange ist lang, aber man nimmt sich die Zeit. Immerhin handelt es sich um Marina Abramović, die kuratiert und zeigt, was sie während der Pina Bausch Professur an der Folkwang Universität der Künste gelehrt hat. Marina Abramović, die wohl bekannteste Performancekünstlerin unserer Zeit, Marina Abramović, die „Schmerzensmadonna“ der Kunst. Vom 30. Juni bis 9. Juli 2023 konnten die Long Durational Performances der Studierenden im Folkwang Museum, Essen besucht werden. 24 Studierende, 54 Stunden. Wie die zeitgenössische Performancekunst vermuten lässt, geht es um Körper, Identität und das Innerste der Künstler:innen, die - ganz dem Folkwanggedanken folgend - aus verschiedenen Bereichen wie Schauspiel, Gesang, Musik, Tanz und Fotografie stammen. Aber vor allem geht es um Ausdauer.

In einem Gespräch mit dem WDR erzählt Abramović vom Workshop Cleaning the House, den sie bereits in den 70er Jahren zusammen mit ihrem damaligen Partner und verstorbenem Künstler Ulay durchführte. Die 24 Studierenden ihrer Klasse werden an „zu kalte oder zu warme Orte“ gebracht, bekommen 5 Tage lang nichts zu essen, dürfen 5 Tage lang nicht reden und werden 5 Tage lang um 4 Uhr morgens geweckt, um mit einem Eisbad den Tag zu starten. Selbstgeiselung vor der eigentlichen Performance. Sind dies nicht auch Methoden der Folter? Die totale (und körperliche) Selbstaufgebung für die Kunst? Marina Abramović sagt zwar selbst, sie wolle keine 24 Abramović erschaffen, scheint durch derartige Methoden jedoch den Weg dafür zu ebnen. 

Jede:r an einem festen Ort, drapiert wie ein bewegtes Kunstwerk, befinden sich die Performancekünstler:innen im Museumsraum. Bedingt durch die verschachtelte Ausstellungsarchitektur, ist bereits beim Eintreten ins Folkwang Museum ein akustischer Vorgeschmack auf das Zusehende gegeben. Soprangesang, Stimmengewirr, Saxophonklänge und Spiegel, die klirrend zerbersten. Statt sinnesumfassend empfand ich es eher als reizüberflutend. In jeder Ecke gibt es Spektakel, aus jeder Ecke kommen Geräusche oder Stimmen. Die massive Überfüllung durch die Besucher:innen verstärkt diese Überstimulation.

Frederico Mendes Teixeiras hochhackigen Yellow Shoes, sollen in der gleichnamigen Performance zwar die Aufmerksamkeit des Betrachtenden auf sich ziehen, jedoch lediglich bis der Tänzer sich komplett - bis auf die Yellow Shoes natürlich - seiner Kleidung entledigt und man sich mit dem Geschlecht eines fremden Mannes konfrontiert sieht. Erst beim Verlassen des Hauses und durch mein explizites Suchen, fällt mir eine Warnung am Eingang ins Auge, in der u.a. auf Nacktheit verwiesen wird. Durch die Geräuschkulisse und das erwartbare Spektakel in der Ausstellung habe ich diesen Hinweis übersehen und war damit bestimmt nicht die einzige. Man mag mich prüde oder konservativ nennen, jedoch wäre meines Erachtens eine deutlichere „Warnung“ angebracht. Körperkunst muss in meinen Augen keine Körperschau sein. Dabei geht es mir nicht um die Platitude „Und das soll Kunst sein?!“, was der Performancekunst oft durch die Abgrenzung zur traditionellen Formensprache der Moderne vorgeworfen wird, sondern um den leichtesten Weg der Reizung. Nackt sein können wir alle. Bei dermaßen nach außen gezeigter Intimität, bleibt der übrig gebliebene Inhalt beinahe am Rand der Nichtigkeit. Wenn dies jedoch der Sinn war, dann kann ich absolut nicht nachvollziehen, was Abramović dem Tänzer während der Pina Bausch Professur beigebracht hat. 

Der Kunstbegriff wandelt sich; das ist mir bewusst. Während es im letzten Jahrhundert à la Neue Sachlichkeit oder Expressionismus um kollektive Verarbeitung des Zeitgeschehens ging, spielt sich die Gegenwartskunst im Innersten der Künstler:innen ab, ein neuer Freiheitsbegriff entstand und man löste sich von ästhetischen Idealen. Das Individuum steht nun im Vordergrund und dessen Umgang mit dem politischem/gesellschaftlichem hier und jetzt. Aber wieso hat Klara Günther den Drang, einen ihrer Alpträume, sich in ein Huhn zu verwandeln, einem Publikum zu zeigen? Zu Beginn der Performance - oh Wunder - komplett nackt, reibt sie sich über die Zeit hin mit Rübenkrautsirup und Federn ein, bis sie sich in eben jenes Huhn transformiert. Woraus ergibt sich für den Betrachtenden der Mehrwert? Was hat es für einen Sinn, jene Thematik mit einem Publikum zu teilen? 

Gewiss, Kunst tut uns nicht den Gefallen, uns zu gefallen, wie der Kunsthistoriker Jean-Christophe Ammann so schön gesagt hat, sondern sei „vielmehr ein sinnlich wahrnehmbarer Denkgegenstand“. Ich nehme sinnlich wahr, sehe den unter Federn versteckten Körper, rieche den süßen Sirup und denke über den Alptraum der Künstlerin nach. Zwar bin ich prinzipiell der Meinung, Kunst kann eben doch jenen oft kritisierten dekorativen Charakter haben, jedoch schreit die komplette Ausstellung nach Sinnhaftigkeit und Bedeutung. Somit stellt sich mir dann wiederum die Frage, ob derartige Gegenwartskunst wirklich so niedrigschwellig sein will oder sich hinter vermeintlichen Metaebenen versteckt.

Da macht es Aleksandar Timotic meines Erachtens besser. Der in Serbien geborene Opernsänger sitzt 6 Stunden pro Tag an einem großen runden Tisch, schält einen Berg aus Kartoffeln und singt dabei Opernarien. Den Hintergrund findet sich in seiner Heimat und der dort herrschenden Kultur. Zuneigung werde dort kaum über Worte oder körperliche Gesten ausgedrückt, sondern durch das Anrichten von Essen. „Are you hungry?“ statt „I love you.“ Diese simple Handlung und die Möglichkeit als Besucher:in am Kartoffelschälen zu partizipieren, bildet und bildet ab. Es wird ein Aspekt einer Kultur repräsentiert und das auf so eine schöne und rührende Art und Weise, die sensibel damit umgeht. 

Sophie Kocklers Arbeit How To Become A Microwave ist ebenfalls sehr niederschwellig. Die Künstlerin sitzt auf einem Fahrrad, vor ihr an der Wand befindet sich eine Mikrowelle, in der eine Tasse mit Wasser steht. Die Besucher:innen sind dazu eingeladen, den Timer einzustellen und so die Zeit zu definieren, die Kockler eben auf diesem Fahrrad strampeln muss, um durch die dabei erzeugte Energie einen kleinen Wasserkocher zu erhitzen. Ertönt das Piepen der Mikrowelle, steigt die Künstlerin vom Rad, misst die Temperatur beider Flüssigkeiten und - je nachdem wer „gewinnt“ - bekommt der Mensch Sophie oder die Maschine Mikrowelle einen Strich auf der Wand.

Dass das Publikum die Kontrolle über die Zeit der Anstrengung bekommt, erinnert an Abramović berühmte, ebenfalls 6-stündige, Performance Rhythm 0. In jener saß sie in einem Raum, in dem diverse Gegenstände lagen, mit denen die Besucher:innen an der Künstlerin selbst jegliche Handlungen verüben konnten. Darunter eine Feder, Parfüm, Honig, Brot, Trauben, Wein, Scheren, ein Skalpell, Nägel, eine Metallstange und ein geladener Revolver. Abramović war am Ende nicht nur unangebrachten Berührungen und Verletzungen ausgesetzt war, sondern hatte schlussendlich die geladene Waffe am Kopf. Neben der scheußlichen Gewissenlosigkeit der Betrachtenden, bildete sich ebenfalls eine schützende Menge um sie, da sich die Künstlerin keiner dieser Handlungen widersetzte.

Nicht mit dem Einstellen einer Mikrowellenuhr zu vergleichen, der Abramović’sche Geist der Performance ist jedoch deutlich zu spüren. Die Maschine ist hier an sich nicht der Feind. Kockler stellt, einer nüchternen Dokumentation gleichend, das enorme Gefälle und die große Diskrepanz zwischen Mensch und Technik dar. Der Applaus des Publikums, wenn die Künstlerin es schafft, das Wasser durch simple Muskelkraft zu erhitzen, suggeriert dann doch einen „Sieg“ und zeigt wunderbar auf, dass die Betrachter:innen die Deutungsebene beeinflussen (können). 

Der Tänzer Camillo Guthmann, der sich in einer Nische befindet und mit Steppschuhen auf Spiegelscheiben herumtanzt, würde dies als Marina Abramović wahrscheinlich barfuß tun. Trotzdem verletzt er sich dabei, die Geräuschkulisse ist ohrenbetäubend, überfordernd und - meines Erachtens - abschreckend. Ich höre, sehe, schmecke und rieche, werde von einer Reizung zur nächsten geworfen, sodass die Verarbeitung des Gesehenen mich wie ein Hammer trifft. 

From a very early time, I understood that I only learn from things I don’t like.“ Keine Kunstkritik ohne Künstler:innenzitat. Die Worte von Abramović klingen nach, nur weiß ich nicht zurecht, ob ich das Gesehene mag, noch ob und was ich gelernt habe. Jedoch hat die Ausstellung was mit mir gemacht, hat mich aufgewühlt, mich empört, mit Ekel, Faszination und Überforderung zurückgelassen. Und ist das im Endeffekt nicht etwas Gutes? Dass die überfüllte Gegenwart mit 54 HOURS PERFORMANCES endlich mit emotionaler Aufladung durchbrochen wird und uns vor Augen hält, wie sich die Kunst mitwandelt?

Jedoch wird es in meinen Augen problematisch, wenn sich hinter großen Namen versteckt wird oder die Demokratisierung der Kunst durch dermaßen Künstler:inneninterne Thematiken wieder gen Unzugänglichkeit führt. Gegenwartskunst beschäftigt sich mit Inhalten und vor allem Problemen des Hier und Jetzt, in dem wir nun mal ALLE leben. Mir ist bewusst, dass jede:r eine eigenen Bewältigungsstrategie - heute ja so schön "coping mechanism" genannt - hat, aber wenn die Kunst nicht mehr ohne Wandtext, gezwungener Vermittlung auskommt, bekommt sie einen unaufgeschlossenen Charakter. Und das kann sie ideologisch zurückwerfen, in eine Zeit, in der nur das Bildungsbürgertum, die akademische Elite, Zugang fand. Der individuelle und intime Inhalt erreicht seinen Höhepunkt und scheint nichts Nachvollziehbares mehr zu haben. Dabei will doch heute jede:r so #relatable sein.

03.07.2023, 14:25, Frank-Thorsten Moll

Von Wunderkammern und Bad Banks - Überlegung zur Zukunft der Museen↓︎

Sammeln, Bewahren und Forschen waren lange Zeit die Hauptaufgaben von Museen. Diese heilige Trias steht bis heute in den Richtlinien des internationalen Museumsverbandes ICOM, und werden daher jedes Mal Punkt für Punkt abgehakt, wenn es darum geht, unseren Geldgeber:innen Rechenschaft über erfolgreiches Arbeiten abzulegen.

Wären dies die einzigen Aufgaben, die an Museen und ihr Personal herangetragen werden, könnte man sich als Museumsverantwortlich:e wahrscheinlich nicht beklagen. Heute, so ist leider die Realität vieler Museen, kommt eine ständig wachsende Palette von zusätzlichen Aufgaben hinzu, an denen wir alle mehr oder weniger scheitern.

Tatsächlich müssen Museen heute Antworten auf so ziemlich alle Fragen und gesellschaftlichen Problemkonstellationen parat haben. Inklusion ermöglichen, Teilhabemöglichkeiten schaffen, Bildung für Jung und Alt anbieten, attraktive Lernorte bereithalten, als Nachhaltigkeitsschule agieren, selbstverständlich Diversität leben, niedrigschwellige Erlebnisräume gestalten, bei der digitalen Vermittlung voranschreiten und innovative Formate der Museumsarbeit entwickeln. Dass dies alles mit immer weniger Geld, immer größerem Erfolgsdruck und oftmals utopischen wirtschaftlichen Erfolgszielen erreicht werden soll, macht die Arbeit derweil nicht leichter.

Tritt man einen Schritt zurück und betrachtet die Situation von außen, könnte man sich ernsthaft fragen, woher die Idee stammt, dass Museen überhaupt in der Lage seien, all diese gesellschaftlichen Probleme exemplarisch und vorbildhaft zu lösen, wo doch Politik und Wirtschaft in genau denselben Disziplinen mit ungleich größeren Ressourcen an Geld, Personal und Expertise oftmals scheitern.

Ich bin fest davon überzeugt, dass man uns die ganzen unerfüllbaren Aufgaben übergibt, weil man tatsächlich nur uns zutraut, mit der Komplexität dieser Aufgaben tatsächlich klarzukommen. So unglaublich dieses Maß an Vertrauen in unsere Fähigkeiten zunächst klingen mag, so sehr ist dieses Vertrauen in der Geschichte der Museen verankert. Denn schon immer waren Museen so eine Art Bad Bank des kollektiven schlechten Gewissens und in dieser Funktion physische Lager- und diskursive Austragungsorte von so ziemlich allem was ansonsten schwer einzuordnen war.

Ordnung schaffen war sicher die erste aber auf keinen Fall die vornehmste Aufgabe, die den Museumsmacher:innen dereinst ins Stammbuch geschrieben wurde. Fürst:innen und König:innen übergaben ihre gesammelten Mitbringsel und Gastgeschenke unter dem Deckmantel humanistischer Bildung an jemanden, der:die landläufig als gebildet erachtet wurde und dem:der man dann sagen konnte: „Mach Dir einen Reim darauf und lass uns alle vergessen, wieviel Blut an diesen Objekten klebt!“. Mit diesem Auftrag war die Wunderkammer - mit all ihren rassistischen und kolonialistischen Implikationen - geboren.

Die kurz danach aufkeimende Idee diese immer größer gewordenen Kammern dem Bürgertum zugänglich zu machen, war im Rückblick sicher der genialste Taschenspielertrick, um aus den geraubten, ergaunerten oder erpressten Gegenständen doch noch einen moralischen Mehrwert zu produzieren. Da dieser auch vermittelt werden musste, war die Museumspädagogik ergo der pädagogische Auftrag der Museen geboren, der fortan konstant intensiviert wurde. Er zog immer weitere Kreise, von den Bürger:innen mit Bürgerrechten auf die Bürger:innen im allgemeinen, die Arbeiter:innen, die Bauern und Bäuerinnen, von Kindern bis zu Rentner:innen. Und so wurde aus einer moralischen Bankrotterklärung ein Erfolgsmodell, das wir heute Museum nennen.

Seither ist viel passiert, könnte man meinen. Kolonialismus und Imperialismus sind als der dunkle Schatten der Moderne thematisiert worden und der entfesselte Kapitalismus dient als Bühnenbild einer postmodernen Kulturpraxis. Und die Kunst? Sie hat seit dem Zweiten Weltkrieg derweil mit großem Erfolg die Rolle der Wunderkammern übernommen. Doch, so meine These, die Rolle der Museen als ästhetische und diskursive Bad Bank des schlechten Gewissens einer Gesellschaft bleibt auch weiterhin bestehen und erklärt viele Missverständnisse in der Fremd- und Eigenwahrnehmung der Museen.

Die Metapher der Bad Banks stammt zunächst aus dem Kontext der Finanzkrise. Hier versprach die Einrichtung von Bad Banks den taumelnden Banken, sich von ihren risikobehafteten Papieren elegant zu trennen. Die einzige Aufgabe der Bad Banks war es, die Risikopapiere der anderen aufzukaufen, bei Gelegenheit möglichst gut zu verkaufen oder bei Unverkäuflichkeit als Verlust abzuschreiben - sodass die „guten“ Banken bilanziell nicht mehr belastet werden. Dasselbe, möchte ich behaupten, machen Museen für ihre Gesellschaften.

Vor nicht allzu langer Zeit wurde den Museen eine unlösbare Frage überstellt: Wie ist es machbar, gleichzeitig immer reicher werden zu können (Akkumulation), aber auf immer begrenztere Ressourcen blicken zu müssen (Nachhaltigkeit)? Und es fand sich tatsächlich eine Antwort. Die Lösung des Kunstsystems war einfach und genial: Es hat auf Objekte zurückgegriffen, die es bereits gab und erschloss einen Nachlass verstorbener und zuvor vergessener Künstler:innen nach dem anderen. Dadurch wurden enorme Wertsteigerungen erzielt. In diesem Kontext wird gerade der Erfolg der klassischen Moderne in den Auktionshäusern als Naturgesetz erachtet. Man vergisst jedoch, dass die Zeit, als man die Picassos und Degas im PKW zur nächsten Ausstellung fuhr, noch gar nicht so lange her ist, wie man meinen könnte. Und heute? Heute schickt sich das System an institutions- und kunstmarktkritische Künstler:innen als Spekulationsobjekte zu handeln und erneut hilft die Kunstgeschichte fleißig mit.

Wir als Museumsarbeiter:innen sind natürlich ebenfalls Vertreter:innen des Kunstsystems und sind damit ebenfalls die Apologet:innen einer Wertakkumulationsmaschine (Kunstsystem) die bisher jeder Krise getrotzt hat und daher von allen anderen Systemen neidisch beäugt wird. Das Kunstsystem – seien wir mal ehrlich - ist eine radikale Zuspitzung aller kapitalistischer Imperative. Das öffentliche Abfeiern immer neuer Rekorderlöse bei Auktionen ist daher auch kein Missverständnis einer fehlgeleiteten Öffentlichkeit, als dass die Gralshüter:innen der Kunst diese oft empfinden. Es ist vielmehr ein Kniefall vor dem Kunstsystem – eine ehrfürchtige Verbeugung vor dem Beharrungsvermögen an alten – intellektuell längst ad absurdum geführten – Werten und Normen. Wir Museumsmacher:innen, sehen uns bequemerweiseoftmals nur als entfernte Verwandte dieses turbokapitalistischen Kunstsspekulationssystems. Dies wäre zu kurz gedacht, denn nachdem wir uns diesbezüglich ehrlich gemacht haben sollten wir lernen, dies zu akzeptieren und uns zu Nutze machen.

Das Unterbewusste unserer Gesellschaften weiß offenbar viel besser über unsere Fähigkeit Sinn aus Unsinn, Wert aus Unwertem und Geschichte aus dem Vergessenen zu schaffen, als wir selbst. Dies kombiniert mit einem hohen Maß an Resilienz und Begeisterungsfähigkeit ist das Material aus dem wir die Zukunft der Museen gestalten sollten. Im übertragenen Sinn, sollten wir lernen die ungedeckten Schecks, das Falschgeld und die Aktien nicht existierender Firmen, sprich alle Inhalte, die uns als Bad Bank übermittelt von der Gesellschaft zur Verwahrung anvertraut wurden, zurückzutauschen und in echten Mehrwert zu verwandeln: In Werte, die gespeist werden von Begegnungen, Verhandlungen und Diskussionen über die Frage, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen. Nur so wird es uns gelingen, nicht mehr als Orte des externalisierten schlechten Gewissens (Bad Banks), sondern als Möglichkeitsräume einer offenen Gesellschaft erkannt zu werden.

05.06.2023, 10:40, Brenda Guesnet

Eine Leseliste für ALL OUR YESTERDAYS↓︎

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Lili Dujourie, Roman (5), 1979, Collage auf Papier. Courtesy S.M.A.K., Foto: Dirk Pauwels

In unserer aktuellen Gruppenausstellung hängt eine Arbeit von Lili Dujourie aus dem Jahr 1979, die den Titel Roman (5) trägt. Die Arbeit besteht aus einem langen Papierbogen, auf dem Papierstücke angebracht sind, ausgerissen aus Zeitschriften und Werbeprospekten. Die Ecke eines Schlafzimmers, roter Seidenstoff, eine Dose Lancôme-Hautcrème, eine sich beugende Welle am Strand. Auch wenn der Titel der Arbeit suggeriert, dass es sich hier um eine Geschichte mit Anfang und Ende handelt, ist es wegen der großen Abstände zwischen den Schnipseln unmöglich, diese Erzählung in ihrer Gesamtheit zu betrachten.

Auch sonst zieht sich ein literarischer Leitfaden durch die Ausstellung ALL OUR YESTERDAYS [Alle unsere Gestern] mit Arbeiten von Lili Dujourie, Sophie Nys und Angyvir Padilla: angefangen beim Titel der Ausstellung, der sich auf einen Roman der italienischen Autorin Natalia Ginzburg bezieht. Die Arbeiten der drei Künstlerinnen erzählen oft selbst eine Geschichte, bei der sie aber vieles weglassen und die Betrachtenden dazu einladen, die Lücken zu füllen. Mit den folgenden Büchern und Texten könnt ihr in die Welt dieser Ausstellung eintauchen: es geht um zuhause, Zeitlichkeit, das Sich-Erinnern, und die Fallen der Femininität. Ich kann aber jedes dieser Bücher auch so empfehlen, als Sommerlektüre, mit Wellen am Strand.

Alle unsere Gestern - Natalia Ginzburg

Die Handlung dieses wunderbaren Romans ist im Italien des Zweiten Weltkriegs angesiedelt. Eine junge Protagonistin kristallisiert sich allmählich aus einem komplexen Geflecht von Familienbeziehungen heraus, ihr inneres Leben wird dabei in die radikalen sozialen und politischen Umwälzungen eingebettet, die um sie herum passieren. Ginzburg gelingt es, erschütternde Ereignisse im Familienleben und im Krieg gleichermaßen zu gewichten, und treibt die Erzählung mit Leichtigkeit voran.

Die Jahre - Annie Ernaux

Hierbei handelt es sich um das wohl bekannteste Werk der Nobelpreisträgerin für Literatur Annie Ernaux. Ausgehend von einem schwarz-weißen Foto aus ihrer Kindheit, auf dem sie am Strand von Sotteville-sur-Mer zu sehen ist, beschreibt Ernaux ihr Leben im Besonderen, und gleichzeitig das Leben im Allgemeinen, unser alle Leben. Eine »unpersönliche Autobiographie«, die uns durch die Nachkriegszeit bis in die Gegenwart trägt. 

Alle_Zeit - Teresa Bücker

Ein neues Sachbuch mit wichtigen Überlegungen zu einer sozial gerechteren Zeitkultur. Zeit ist das vielleicht wichtigste Gut in unserer Gesellschaft: wir alle wünschen uns mehr Zeit, aber sie ist nicht kaufbar, tauschbar, oder dehnbar. Und doch steht Zeit und die Entscheidung darüber, wie wir sie verbringen, nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung. Die Journalistin Teresa Bücker macht konkrete Vorschläge für einen anderen Umgang und eine neue Wertschätzung von Zeit, in Politik, Gesellschaft und in uns selbst.

Stirb doch, Liebling - Ariana Harwicz

Dieser Roman macht süchtig — und wie die meisten Suchten ist er auch schwer zu ertragen. Eine junge Mutter fühlt sich gefangen in ihrer neuen Hausfrauenrolle in der französischen Provinz und wird langsam, aber sicher zum Wahnsinn getrieben. Meist ist es unklar, welche der fantastischen und gewaltvollen Szenen sich nur in ihrem Kopf abspielen und welche “echt” sind, als Lesende erleben wir die Welt in ihrem Gehirn. Franz Kafka sagte, “ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns” — hier eine treffende Beschreibung. 

Die Schwerelosen - Valeria Luiselli

Eine junge Frau lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in einem Haus in Mexiko City und schreibt an einem Roman. Sie verlässt das Haus nicht, aber fühlt sich auch nicht zuhause. Also beginnt sie zu erzählen. Von ihrem Mann, von ihren Kindern, von ihrer Vergangenheit. Ähnlich wie Lili Dujouries’ Film Passion de l'été pour l’hiver (1981), in der Ausstellung zu sehen, ist dieser Roman ein Einfrieren von Zeit, ohne die Bewegung der Dinge anzuhalten. Das Leseerlebnis selbst wird zu einer Art Schwerelosigkeit.

Drinking from the Water-Clock: Time and Speech in Imperial Rome - James Ker (EN)

In diesem akademischen, poetischen Artikel des Historikers James Ker geht es um die Klepsydra oder die Wasseruhr, ein seit der Antike verwendetes Instrument, um kurze Zeitspannen zu messen. In der Ausstellung spielt die Klepsydra eine wichtige Rolle — Sophie Nys’ hat eine Wasseruhr aus Plastikeimern und einer Kirchenbank gefertigt, die für Besucher:innen aktiviert wird und sie in der Ausstellung durch das Geräusch des tropfenden Wassers begleitet. Auch wenn sie als Objekt erstmal banal erscheint, hatte die Klepsydra schon für die alten Römer eine existentielle Bedeutung. Es war der Philosoph Seneca, der schrieb: „genau wie es nicht der letzte Tropfen ist, der die Wasseruhr leert, sondern alle Tropfen, die schon vorher geflossen sind, so ist der letzte Moment eines Lebens nicht der, der den Tod herbeiführt, sondern nur der, der das Ende vollzieht.“ Hier ist ein Link zur PDF.

14.05.2023, 11:00, IKOB

IKOB Podcast - apropos #7 Performing landscapes w/ Stefania Crișan & Isolde Venrooy↓︎

Diese Ausgabe von apropos ist in englischer Sprache // This episode of apropos is in English

Sponges, stones and dinosaurs: this episode of 'apropos' gives our listeners a sneak peek into the studios of artists Stefania Crișan and Isolde Venrooy at Greylight Projects in Heerlen, The Netherlands. The two artists are currently working on new performances for the upcoming "performing landscapes" festival to take place at IKOB on Saturday, 2nd September 2023 in collaboration with the Very Contemporary network.

Isolde Venrooy (b. 1977 in Rosmalen, NL, lives and works in Nijmegen, NL) works with objects, interventions and walks to form an artistic practice that is rooted in ecological thinking and making. Together with participants, co-authors, friends and passers-by, she experiments with forms of collaboration, exploring, giving and receiving. Venrooy‘s work has been exhibited at TENT in Rotterdam, Zone2Source in Amsterdam and De Fabriek Eindhoven, among other places, and her artistic practice is supported by the Mondriaan Fund.

Stefania Crișan (b. 1993, Timisoara, RO, lives and works in Metz, FR) is interested in themes connected to the anthropocene, questioning the paradoxes between the horror and the beauty of catastrophe. Her practice is marked by a landscape that was devastated through ecological disaster, that of the village of Geamăna in Romania, deliberately flooded in the 1970s and turned into a settling pond for copper mining activities. Crișan is the winner of the 2022 Luxembourg Encouragement for Artists Prize (LEAP) and has exhibited at FRAC Lorraine, Casino Luxembourg, Stadtgalerie Saarbrücken and Centre Pompidou-Metz.

Hosted by Studio Néau.

Sound credits:

Visible Cloaks (mix)
Stefania Crișan playing a drum
Arp - Sponge (for Miyake)

04.04.2023, 11:35,

Ethikrat im Düsseldorfer Schauspielhaus↓︎

Am 13.11 habe ich das Theaterstück Gott von Ferdinand von Schirach besucht. Wer die Stücke des Rechtsanwaltes kennt, weiß auch, dass er die Betrachtenden gern zum Teil der Erzählung macht. Als jener findet man sich vor einem schlichten Bühnenbild wieder, wir, das Publikum, schlüpfen in die Rolle des deutschen Ethikrates und auch wir, jeder Einzelne, gibt am Ende des Stückes eine Stimme ab. Die Frage: Darf man Sterbehilfe leisten, wenn die betroffene Person ohne Erkrankung einfach keinen Lebenswillen hat? Zur argumentativen Stütze sprechen diverse Expert:innen auf der Bühne, beziehungsweise in dem Verhandlungsraum, welchen diese darstellt. Geladen sind eine Rechtssachverständige, ein medizinischer und ein theologischer Sachverständiger, allesamt in hohen Ämtern ihres Fachs, allesamt gebildet und belesen. 

Der eigentliche Protagonist, Herr Gärtner, der nach dem Tod seiner Frau selbst nicht mehr unter den Lebenenden weilen möchte, ist nicht vor Ort, sondern wird in regelmäßigen Abständen über kurze Videos auf Leinwände im Bühnenbild projiziert. Das Thema und die Unbequemheit, sich damit auseinaderzusetzen, wird durch die Nüchternheit und Reduzierung des Szenebildes untermalt. Die visuellen Bezeichnungen der Redner:innen stehen im vermeintlichen Kontrast zu den Zwischensequenzen Herr Gärtners, welche einem erneut das Einzelschicksal vor Augen führt. Seine direkten Ansprachen an das Publikum könnte auch als Manipulation gewertet werden. Seine monumentale Erscheinung, die doppelten Leinwände erzeugen eine wahnsinnige räumliche Tiefe und transformieren diese auch in das Stück hinein.

Gott schaftt es, eine vermeintlich trockene Auseinandersetzung  dermaßen zu emotionalisieren, dass ich teilweise dazwischenrufen wollte und das obwohl ich jedem Kellner freundlich zulächle, wenn er mir das falsche serviert hat. Es ist lange her, dass ich mit so viel Redebedarf und Gedanken ein Theater verlassen habe. Rund ums Schauspielhaus konnte man Stimmen, Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten hören, als würde das Stück über die architektonischen Grenzen hinaus weiterspielen. Und das ist die eigentliche Konklusion: Die Frage nach dem Tod, die Frage, wie man sterben will oder wann: Das sind Themen, von denen sich niemand frei machen kann, sie kommen unausweichlich auf uns zu und deshalb zwingt das Stück einen jeden Betrachtenden, sich diesen Fragen zu stellen - und, noch viel wichtiger: Einzugestehen, dass es für Vieles einfach keine Pauschallösungen gibt und dass dafür auch keinen Anspruch besteht. Dass es aber auch okay ist, zu gewissen Dingen (noch) keine Meinung zu haben - und, gewiss: Der Klassische "Sei dir der Sterblichkeit bewusst"- Gedanke. Hier jedoch dermaßen verklausuliert und kolossal heruntergebrochen, dass memento mori selbst nach einem Paragrafen klingt. 

12.03.2023, 11:00, IKOB

IKOB Podcast - apropos #6 Westalgie w/ Henrike Naumann, Tom Bogaert & Merle Vorwald↓︎

Diese Ausgabe von apropos ist in englischer Sprache mit einigen Videoausschnitten in deutscher Sprache. // This episode of apropos is in English with some video excerpts in German.

Artists Henrike Naumann, Tom Bogaert and Merle Vorwald have two things in common: they are currently presenting solo exhibitions at IKOB, and they all share an interest in the personal and collective trauma brought about by national histories. Henrike Naumann investigates the repercussions of the so-called German reunification through the vehicle of furniture and interior design. Tom Bogaert calls attention to Flemish nationalism through his former involvement in a flag thrower’s association. And Merle Vorwald mines her childhood memories of her Nazi grandfather to address right-wing tendencies in today’s Germany.

We asked the artists to tell us more about the triggers for their works, about their views on language and aesthetics, and what makes their collaboration at IKOB in the context of East Belgium special. Henrike Naumann: WESTALGIE, Merle Vorwald: DAUERGLOSS and Tom Bogaert: VENDELZWAAIER – FLAGGENWERFER are on view at IKOB through 16.04.2023. The exhibitions are curated by Frank-Thorsten Moll.

Hosted by Studio Néau.

Featured (sound)tracks:

Guerre froide - Demain Berlin

Henrike Naumann, Terror, 2012

Merle Vorwald, GGG BROADCAST: G1 (Ging nicht), G2 (Geht nicht), G3 (Geht doch), 2020

Badenweiler Marsch, Antifa-filtered by Sebastian

Vlaanderen - Renaat Veremans and Willem Gijssels

Vendelzwaaiers en wimpeliers Stoet Sagen en Legenden 18 september 1988, via YouTube

28.02.2023, 19:40, Brenda Guesnet

Besuch im Frans Masereel Centrum↓︎

Anfang Februar war ich beim Frans Masereel Centrum im flämischen Kasterlee eingeladen, um die dort residierenden Künstler:innen kennenzulernen. FMC ist ein Zentrum für zeitgenössische Kunst, welches auf „printed matter“ (Druckerzeugnisse) spezialisiert ist. Internationale Künstler:innen können dort fünf Wochen lang residieren und produzieren. Dafür steht ihnen technisches Equipment und Expertise zur Verfügung, um eine Reihe an Techniken durchzuführen: Tiefdruck, Siebdruck, Reliefdruck, Lithografie, Typo- und Digitaldruck (Riso, Laserschnitt, Drucker, etc.).

Das Zentrum ist wie ein kleines Dorf, von Feldern und Wald umgeben, und die Künstler:innen sind in dreieckigen, nach oben ragenden Bungalows untergebracht. Diese sind rund um das Hauptgebäude angeordnet, welches sowohl von außen als von innen durch seine runde, windmühlenartige Form auffällt. Kunstschaffende kommen aus unterschiedlichen Motivationen ins Zentrum: manche arbeiten schon seit Jahren mit den Druckmaschinen und wollen ihre Fähigkeiten hier vertiefen, andere kommen, um Grundkenntnisse aufzubauen oder zum Experimentieren.

Rinako Sonobe, eine gelehrte Druckmacherin und Architektin die ich hier treffe, produziert beeindruckende, schwarz-weiße Lithographien von abstrakten Landschaften. Aber die hauptsächliche Motivation für ihren Aufenthalt liegt auf der Metaebene: mithilfe eines Stipendiums reist sie zu verschiedenen Druckworkshops auf der ganzen Welt um die „Choreographie des Druckens“ künstlerisch zu erforschen.

Mithilfe von Zeichnungen, time-lapse Videos und Diagrammen arbeitet sie an einem “visuellen Wörterbuch”, welches die Bewegungen und Aktionen der Drucker:innen rundum die Anlagen dokumentiert. Im Frans Masereel Zentrum findet sie z.B. die kreisförmige Produktionsstätte faszinierend: die ungewöhnliche Architektur definiert sie wie man dort miteinander arbeitet und interagiert. Für Sonobe ist der Prozess des Druckens ein integraler Teil dieser Kunstform. Sie erfordert sowohl Präzision als Spielfreude, sie lebt gleichermaßen von Sachkenntnis und dem Unvorhersehbaren.

Sonobes Projekt lässt mich an meine Frustration bezüglich der aktuellen Debatte um künstliche Intelligenz und vor allem sogenannte “computer generierte Kunst” denken. Wenn Redakteur:innen fragen, ob durch Technologien wie openart.ai Künstler:innen bald obsolet sind, haben wir es mit einem großen Missverständnis über die Rolle von Kunstschaffenden in unserer Gesellschaft zu tun. Sie reduzieren künstlerische Praxis auf das Erstellen und Verstreuen von digitalen Bildern, die wir über unsere diverse Bildschirme konsumieren.

Was viele zu vergessen scheinen, ist, dass wir nach wie vor in einer materiellen, sinnlichen und körperlichen Welt leben. Die Texturen und Vibrationen einer Lithographie oder die Tiefe eines Pinselstrichs auf der Leinwand sind mehr als ein Datensatz: beides kann uns etwas sagen, aber eins ersetzt nicht das andere. Und niemand ist besser aufgestellt, uns durch Können und Kreativität neue Erfahrungen und Perspektiven zu eröffnen, als Künstler:innen. Hoffentlich bleiben uns die Orte, wo diese Begegnungen möglich werden, weiterhin erhalten.

https://fransmasereelcentrum.be/en/
https://www.wellesley.edu/news/2022/stories/node/197211

28.02.2023, 18:40, Frank-Thorsten Moll

Manifesta 14 in Pristina – Streunende Hunde und zerfallene Hotels↓︎

Die Kunstwelt nach Corona ist gleichzeitig auch die Kunstwelt nach der Documenta 15, die mit der Idee angetreten war, das Sprechen, Denken und Produzieren von Kunst aus einer anderen Perspektive als gewohnt zu erzählen. Der globale Süden war in Gestalt des Künstlerkollektivs Ruangrupa (Indonesien) eingeladen, ihre Sicht auf die Welt (und die Kunst) in Kassel zu präsentieren und – so muss man leider, einige Wochen nach Ende der selbsternannten Weltkunstausstellung feststellen – hatte nie wirklich eine Chance dies zu tun. Die Antisemitismusvorwürfe waren ein Platzhalter für einen wenig subtilen rassistischen und chauvinistischen Umgang mit den indonesischen Gästen, die man letztlich genau dafür kritisierte, wofür man sie eingeladen hatte – ihre nichtwestliche Perspektive.

Auch wenn der (speziell deutschsprachige) Feuilleton, angestachelt von zumeist älteren, männlichen Kritikern, nicht müde wurde, Angriffe gegen die kuratorische Leitung zu fahren, war der Besuch der Documente fifteen so angenehm und anregend, wie lange nicht. Die Ausstellungen wirkten undogmatisch, entspannt und letztlich muss man auch sagen erfrischend unkommerziell. Damit waren die wichtigsten Ziele der Kurator:innen eingelöst, was mehr ist, als die meisten Kurator:innen seit Okwui Enwezor nach Ablauf ihrer jeweiligen Documenta festhalten konnten. Mehr noch: Lokale und internationale Gruppen hatten es geschafft, 100 Tage mit fast gleichbleibender Intensität an gesellschaftlich relevanten Prozessen zusammenzuarbeiten. Mit einem Minimum an Hierarchie und Machtspielchen. Auch Venedig hatte es geschafft, einen inhaltlichen Abwärtstrend der kuratorischen Austauschbarkeit mit einer präzise kuratierten Ausstellung umzukehren.

Und die Manifesta? Sie hatte als letzte in der Reihe der Großausstellungen einen schweren Stand. Pristina, die Hauptstadt des Kosovo ist weder als Kunstmekka, noch als besonders unproblematisch bekannte Minimetropole bekannt. Als Staat fehlt dem Kosovo immer noch die Anerkennung der internationalen Staatengemeinschaft und firmiert daher als Quasi-Staat. Der Euro hat bequemer Weise die Deutsche Mark als Zahlungsmittel abgelöst, sodass man keine Fremdwährung eintauschen muss. Die Probleme der verschiedenen Minderheiten, allen voran, der serbischen Minderheit, aber auch die er Sinti und Roma, sind bis heute ungelöst und die Verhältnisse zum ehemaligen Kriegsgegner Serbien immer noch angespannt. Eine historisch schon immer schwächelnde Ökonomie trifft zwar auf die im Durchschnitt jüngste Bevölkerung Europas, aber die fehlenden Reise aka Visamöglichkeiten erhöhen natürlich den Druck. Diese Gemengelage erhöht natürlich den Druck für ein Gelingen der Manifesta, die vonseiten der Politik mit beiden Armen willkommen geheißen und mit viel Geld unterstützt wurde.

Das Kurator:innenteam, das gegen starke internationale Konkurrenz im Werben um Aufmerksamkeit antreten musste, versuchte daher alles richtigzumachen. Und schaffte zumindest vieles richtigzumachen. So schaffen sie es, die lokale Kunstszene zumindest so weit mitzunehmen, dass man beim Durchwandern der verschiedenen Ausstellungen regelmäßig auf Künstler:innen aus Pristina traf. Kooperationen mit lokalen Geschäften, um hier einmal mehr den Schlüsselservice zu nennen, mit lokalen Institutionen (Kino, Sternwarte) und vergessene und von der Geschichte abgestreift und liegen gelassenen Orte wiederzubeleben. Wie z. B. das Denkmal für die Opfer des 2. Weltkrieges aufseiten des jugoslawischen Wiederstandes, die zerbombte Schule auf den Hügeln vor der Stadt oder das ehemalige Grand Hotel in der Mitte der Stadt, als Hauptort der Manifesta.

Im zentralen Grand Hotel wurden sechs Stockwerke bespielt und jeder Stock einem Thema gewidmet. “On speculation”, “on love”, “on water”, “on migration” “on transition” und “on ecology” gaben eine Ordnung vor, die einerseits beruhigend und sinnstiftend wirken konnte, andererseits aber auch schnell als kuratorische Fleißarbeit wirken, die alle relevanten Themen abarbeitet.

Trotz dieses Einwandes wirkte die Manifesta durchdacht, brachte viele Themen der post-jugoslawischen Realität zur Sprache und vermittelte sehr gut, welchen Friktionen die Gesellschaft ausgesetzt war und noch immer ist. Dass bei all den guten Absichten manchmal die künstlerische Qualität auf der Strecke blieb, halten wir für verzeihbar, denn sie zeigte – ähnlich wie die Documenta – die Kunst als dringliche Sprache des Widerstandes gegen Ungerechtigkeit, Repression, Krieg und Idiotie.

Daran zu erinnern mag redundant erscheinen, aber ist angesichts der Geschehnisse in dieser Welt absolut relevant und wichtig. Aus diesem Grund und weil wir so viele spannende, widersprüchliche, geschundene, aber letztlich nie wirklich aufgegebene Orte sahen, war die Manifesta definitiv einen Besuch wert!

28.02.2023, 17:40, Brenda Guesnet

Podcast: Death of an Artist↓︎

Die renommierte Kuratorin und Kunsthistorikerin Helen Molesworth arbeitet in Form eines True Crime Podcasts die faszinierende, tragische, unaufgelöste Geschichte der Künstlerin Ana Mendieta auf. Mendieta wurde in den 1970er Jahren mit ihren “earth-body” Arbeiten bekannt und wird heute als eine der wichtigsten feministischen Künstlerinnen angesehen. Im Jahr 1985, mit 36 Jahren, starb sie durch einen Sturz aus ihrer Wohnung im 34. Stockwerk ihres Apartments in New York. Vieles weist darauf hin, dass ihr Ehemann Carl Andre, bis heute ein kanonischer Künstler des Minimalismus, ihren Sturz verursachte.

“Death of an Artist” geht nicht nur den Umständen des Todes auf den Grund, sondern zeigt anhand der persönlichen und künstlerischen Gegensätze zwischen Mendieta und Andre die Widersprüche der Kunstwelt auf — und wie die feministischen und antirassistischen Diskurse der letzten Jahre den Blick auf die heiligen Grale der Kunstgeschichte verändert haben.

https://www.pushkin.fm/podcasts/death-of-an-artist

01.02.2023, 17:35, Frank-Thorsten Moll

Documenta 15 – vom Scheitern des Feuilletons und dem eigentlichen Problem↓︎

Als wir die Preview der Documenta 15 besuchten, spürten wir, dass etwas grundlegend anders war als bei allen anderen Previews dieser vermeintlich immer noch „wichtigsten Kunstausstellung der Welt“. Schon die Wahl des Eröffnungstermins war verwirrend – am selben Tag wie die Art Basel zu eröffnen und dann auch noch am selben Tag wie die Berlin Biennale, löste zumindest bei den älteren Besucher:innen der Preview Befremden aus. Jede:r war zu einer Entscheidung gezwungen gewesen und viele hatten sich offensichtlich an diesem Wochenende gegen die Documenta entschieden. Dass der Kunstmarkt es schwer haben würde, sich zwischen Basel und Kassel zu zerreißen, war schon vor Beginn zu vermuten gewesen, sodass das Fehlen der Galerist:innen und Sammler:innen nicht weiter wunderte. Die entspannte Gelassenheit der ersten Tage war unserer Meinung nach aber auch auf genau diesen Umstand zurückzuführen. Die Verantwortlichen der Documenta hatten dadurch schon einige Steine im Brett. Derart lässig über unumstößlich geglaubte Strukturen hinwegzugehen, verrät ein Maß an Angstfreiheit oder Naivität, konnten nur unseren Respekt provozieren.

Als die ganze Antisemitismusdebatte sich kurz nach der Eröffnung Bahn brach, merkte man jedoch, dass das Konzept der Angstfreiheit gepaart mit einer Prise Naivität sich auch rächen konnte. Es gibt in diesem ganzen Skandal leider wenig zu beschönigen. Die Documenta GmbH reagierte provinziell und überfordert, was nicht wundert, wenn man bedenkt, dass der Hauptgesellschafter die Stadt Kassel ist und ein Bürgermeister einer mittelgroßen Stadt mit allenfalls mittelgroßer Bedeutung eben auch nur im besten Fall mittelgroße Eloquenz an den Tag legen muss, um im Alltag durchzukommen. Um einen derartig komplexen Clusterfuck zu managen, braucht es jedoch mehr als das. Es braucht auch mehr als eine Geschäftsführerin, die die beleidigte Leberwurst besser verkörperte als die Krisenmanagerin, die eigentlich ins Drehbuch geschrieben hätte werden sollen. Dass danach alte weiße Männer mit Erfahrung es auch nicht viel besser machen, ist zumindest eine Erkenntnis, die die politischen Entscheider aller Orten ganz genau betrachten sollten, wenn sie einmal in eine ähnliche Situation kämen.

Auch die total überforderten Mitglieder des Kollektivs Ruangrupa sind allenfalls zu bemitleiden. In erster Linie dafür, wie wenig sie sich auf die deutschen Befindlichkeiten vorbereiten konnten. Ja sicher, es ging um Antisemitismus, aber wir denken, dass dies nur ein vorgeschütztes Thema war. Sorry, in Deutschland werden Synagogen mit Sturmgewehren angegriffen, Politiker mit Kopfschüssen hingerichtet, Mitbürger:innen in ihren Geschäften erschossen, ohne dass Verfassungsschutz, Polizei oder Zivilgesellschaft sich adäquat empören, aber wenn ein Bild auf der Documenta 15 antisemitische Inhalte aufweist, fällt der Kulturjournalismus wie eine Bestie über die „Schuldigen“ und veranstaltet Tribunale.

Was uns daran am meisten aufstieß war die Selbstgerechtigkeit und die Protzerei, mit der „wir“ „denen“ erklären wollten, wie man Antisemitismus erkennt und wie man ihn bekämpft und wie wenig Toleranz man in diesem einen Fall haben darf. Es fiel uns nichts anderes ein, als darin eine fremdenfeindliche und kolonialistische Haltung zu erkennen, die unser Verhältnis zur nicht-westlichen Welt bis heute konstituiert. Wer unsere Traumata nicht zu den seinen:ihren macht, ist barbarisch.

Seltsam! Hatte man nicht extra aus dem Grund endlich mal nicht nur etwas über den Globalen Süden, sondern vom globalen Süden zu lernen? Hätte darin nicht eine große Chance gelegen? Oder wie der ehemalige Bürgermeister Kassels und SPD Politiker Hans Eichel zu paraphrasieren: Wäre es nicht angebracht gewesen, sich erst einmal für die Unterstützung des Suharto Regimes in Indonesien durch Helmut Kohls Regierung, den BND und andere westliche Geheimdienste zu entschuldigen und dann ins Gespräch zu kommen, wie genau das Skandal auslösende Großplakat gemeint gewesen sei. Aus „von den anderen lernen“ wurde wiedermal ein „es den anderen erklären“. Die Documenta ist kein Ort für den globalen Süden! Warum? Weil eine Reflexion über die Möglichkeit eines Dialogs von vorneherein sabotiert worden war.

Womit wir zum eigentlichen „Problem“ der Documenta 15 kommen – ihrer Unkonsumierbarkeit und ihrer generellen Verweigerungshaltung gegenüber den Mächten des Marktes, die sich nicht in Opposition aufrieb, sondern freudvoll an Alternativen arbeitete. Das Ergebnis war eine Selbstvermarktungskultur, die Künstler:innen Geld direkt zugutekommen ließ und dabei genossenschaftliche Strukturen förderte. Konzepte wurden entwickelt, die direkte Demokratie erlebbar machte und die Verschmelzung mit den Organisationen der Stadt, die Workshops von Tag 1 bis Tag 100 anboten – das war die Saat, über die man hätte sprechen sollen.

Gut nur, dass die Erfahrungen der meisten Besucher:innen nichts mit Antisemitismus zu tun hatte, sondern mit einem freudvollen Beobachten und einer Akzeptanz, dass hier etwas grundlegend anderes versucht wurde.

Wir denken, dass man die Documenta 15 als gescheitert bezeichnen kann. Aber nur, weil die Documenta eine zum Scheitern verurteile, anachronistische und unheilbar kranke Institution ist, die nicht von Ruangrupa – und von niemandem – gerettet werden kann. Ruangrupa ist jedoch keines Falls gescheitert, weil sie gezeigt haben, dass Alternativen machbar sind. Nicht von ungefähr werden sie von Monopol und Co. im Jahresrückblick auf allen Listen der einflussreichsten Künstler:innen ganz oben geführt.

Dass speziell das deutsche Feuilleton (Ausnahmen bestätigen die Regel) dies nicht sehen wollte und Antisemitismus gegen Postkolonialismus auszuspielen versuchte, ist unserer Meinung nach der eigentliche Skandal!

09.01.2023, 12:00,

Kontraste in der Duisburger Innenstadt: Bernar Venet demonstriert mit seinem Kunstwerk "5 Bögen" ein Artefakt voller Gegensätze.↓︎

Mitten in der Duisburger Innenstadt, am Opernplatz vor dem Stadttheater, steht das Werk 5 Bögen von dem französischen Künstler Bernar Venet. Die rostbraune Farbigkeit des Stahls sticht aus dem Grün des Rasens und der hellen Fassade des Stadttheaters hervor. Venet hat die Maße der Bögen eingraviert und somit in das Kunstwerk integriert. Diese rationale Vorgehensweise führt zu einer Verallgemeinerung. Die unfigürliche Darstellung und das Fehlen von emotionalen Elementen, lassen dem Betrachter einerseits kaum Raum für Interpretationsansätze, da es sich ganz nach der Devise "Die Kunst für die Kunst" selbst darstellt.

Andererseits ähnelt es einem Skelettfragment aus jüngerer Zeit und deutet auf etwas hin, was längst vergangen ist. In Duisburg wird somit die sterbende Schwerindustrie angesprochen. Zechen schließen und Industriearbeitsplätze fallen weg. Der Standort des Werks zwischen Gastronomie, Kultur und Einkaufszentren spielt auf die neuen Perspektiven an, die der Stadt geboten werden. Der explizite Standort vor dem Stadttheater verbindet durch seine Nachbarschaft Musik und Schauspiel miteinander. Die Dynamik der Rundbögen, welche Kraft und Spannung hervorrufen, ermöglichen dem Betrachtenden eine metaphorische Zusammenführung der beiden Künste. Die Offenheit der Bögen schaffen Platz für spielerische Gedankengänge. "Farbe interessiert mich nicht so sehr. Ich wollte niemandem eine Farbe aufzwingen, um es mal anders auszudrücken.", so der Künstler. Die braune Farbigkeit entsteht durch den Rost des Stahls. Es ist alles in seiner Natürlichkeit erhalten geblieben, um nicht von der Kraft der Form abzulenken.

Die alte, neoklassizistische Fassade des Stadttheaters steht in direktem Kontrast zu der modernen Darbietung der Bögen. Venet möchte darauf Aufmerksam machen, dass Duisburg viel mehr ist, als eine Stadt, die lediglich vom Stahlbau lebte und lebt. Die direkte Verknüpfung von Stahl und Kunst spiegelt dies wider. Der Blick des Betrachters wird von der Installation unmittelbar zum Theater gelenkt.

Der 1941 geborene Künstler widmete sich vom zehnten Lebensjahr an der Malerei und studierte in Nizza an der städtischen Schule für Gestaltende Kunst. 1971 zog sich Venet von der künstlerischen Tätigkeit zurück und konzentrierte sich auf kunsttheoretische Fragen. Fünf Jahre später nahm er seine Arbeiten wieder auf und siedelte 1966 nach New York um.