Die Schlange ist lang, aber man nimmt sich die Zeit. Immerhin handelt es sich um Marina Abramović, die kuratiert und zeigt, was sie während der Pina Bausch Professur an der Folkwang Universität der Künste gelehrt hat. Marina Abramović, die wohl bekannteste Performancekünstlerin unserer Zeit, Marina Abramović, die „Schmerzensmadonna“ der Kunst. Vom 30. Juni bis 9. Juli 2023 konnten die Long Durational Performances der Studierenden im Folkwang Museum, Essen besucht werden. 24 Studierende, 54 Stunden. Wie die zeitgenössische Performancekunst vermuten lässt, geht es um Körper, Identität und das Innerste der Künstler:innen, die - ganz dem Folkwanggedanken folgend - aus verschiedenen Bereichen wie Schauspiel, Gesang, Musik, Tanz und Fotografie stammen. Aber vor allem geht es um Ausdauer.
In einem Gespräch mit dem WDR erzählt Abramović vom Workshop Cleaning the House, den sie bereits in den 70er Jahren zusammen mit ihrem damaligen Partner und verstorbenem Künstler Ulay durchführte. Die 24 Studierenden ihrer Klasse werden an „zu kalte oder zu warme Orte“ gebracht, bekommen 5 Tage lang nichts zu essen, dürfen 5 Tage lang nicht reden und werden 5 Tage lang um 4 Uhr morgens geweckt, um mit einem Eisbad den Tag zu starten. Selbstgeiselung vor der eigentlichen Performance. Sind dies nicht auch Methoden der Folter? Die totale (und körperliche) Selbstaufgebung für die Kunst? Marina Abramović sagt zwar selbst, sie wolle keine 24 Abramović erschaffen, scheint durch derartige Methoden jedoch den Weg dafür zu ebnen.
Jede:r an einem festen Ort, drapiert wie ein bewegtes Kunstwerk, befinden sich die Performancekünstler:innen im Museumsraum. Bedingt durch die verschachtelte Ausstellungsarchitektur, ist bereits beim Eintreten ins Folkwang Museum ein akustischer Vorgeschmack auf das Zusehende gegeben. Soprangesang, Stimmengewirr, Saxophonklänge und Spiegel, die klirrend zerbersten. Statt sinnesumfassend empfand ich es eher als reizüberflutend. In jeder Ecke gibt es Spektakel, aus jeder Ecke kommen Geräusche oder Stimmen. Die massive Überfüllung durch die Besucher:innen verstärkt diese Überstimulation.
Frederico Mendes Teixeiras hochhackigen Yellow Shoes, sollen in der gleichnamigen Performance zwar die Aufmerksamkeit des Betrachtenden auf sich ziehen, jedoch lediglich bis der Tänzer sich komplett - bis auf die Yellow Shoes natürlich - seiner Kleidung entledigt und man sich mit dem Geschlecht eines fremden Mannes konfrontiert sieht. Erst beim Verlassen des Hauses und durch mein explizites Suchen, fällt mir eine Warnung am Eingang ins Auge, in der u.a. auf Nacktheit verwiesen wird. Durch die Geräuschkulisse und das erwartbare Spektakel in der Ausstellung habe ich diesen Hinweis übersehen und war damit bestimmt nicht die einzige. Man mag mich prüde oder konservativ nennen, jedoch wäre meines Erachtens eine deutlichere „Warnung“ angebracht. Körperkunst muss in meinen Augen keine Körperschau sein. Dabei geht es mir nicht um die Platitude „Und das soll Kunst sein?!“, was der Performancekunst oft durch die Abgrenzung zur traditionellen Formensprache der Moderne vorgeworfen wird, sondern um den leichtesten Weg der Reizung. Nackt sein können wir alle. Bei dermaßen nach außen gezeigter Intimität, bleibt der übrig gebliebene Inhalt beinahe am Rand der Nichtigkeit. Wenn dies jedoch der Sinn war, dann kann ich absolut nicht nachvollziehen, was Abramović dem Tänzer während der Pina Bausch Professur beigebracht hat.
Der Kunstbegriff wandelt sich; das ist mir bewusst. Während es im letzten Jahrhundert à la Neue Sachlichkeit oder Expressionismus um kollektive Verarbeitung des Zeitgeschehens ging, spielt sich die Gegenwartskunst im Innersten der Künstler:innen ab, ein neuer Freiheitsbegriff entstand und man löste sich von ästhetischen Idealen. Das Individuum steht nun im Vordergrund und dessen Umgang mit dem politischem/gesellschaftlichem hier und jetzt. Aber wieso hat Klara Günther den Drang, einen ihrer Alpträume, sich in ein Huhn zu verwandeln, einem Publikum zu zeigen? Zu Beginn der Performance - oh Wunder - komplett nackt, reibt sie sich über die Zeit hin mit Rübenkrautsirup und Federn ein, bis sie sich in eben jenes Huhn transformiert. Woraus ergibt sich für den Betrachtenden der Mehrwert? Was hat es für einen Sinn, jene Thematik mit einem Publikum zu teilen?
Gewiss, Kunst tut uns nicht den Gefallen, uns zu gefallen, wie der Kunsthistoriker Jean-Christophe Ammann so schön gesagt hat, sondern sei „vielmehr ein sinnlich wahrnehmbarer Denkgegenstand“. Ich nehme sinnlich wahr, sehe den unter Federn versteckten Körper, rieche den süßen Sirup und denke über den Alptraum der Künstlerin nach. Zwar bin ich prinzipiell der Meinung, Kunst kann eben doch jenen oft kritisierten dekorativen Charakter haben, jedoch schreit die komplette Ausstellung nach Sinnhaftigkeit und Bedeutung. Somit stellt sich mir dann wiederum die Frage, ob derartige Gegenwartskunst wirklich so niedrigschwellig sein will oder sich hinter vermeintlichen Metaebenen versteckt.
Da macht es Aleksandar Timotic meines Erachtens besser. Der in Serbien geborene Opernsänger sitzt 6 Stunden pro Tag an einem großen runden Tisch, schält einen Berg aus Kartoffeln und singt dabei Opernarien. Den Hintergrund findet sich in seiner Heimat und der dort herrschenden Kultur. Zuneigung werde dort kaum über Worte oder körperliche Gesten ausgedrückt, sondern durch das Anrichten von Essen. „Are you hungry?“ statt „I love you.“ Diese simple Handlung und die Möglichkeit als Besucher:in am Kartoffelschälen zu partizipieren, bildet und bildet ab. Es wird ein Aspekt einer Kultur repräsentiert und das auf so eine schöne und rührende Art und Weise, die sensibel damit umgeht.
Sophie Kocklers Arbeit How To Become A Microwave ist ebenfalls sehr niederschwellig. Die Künstlerin sitzt auf einem Fahrrad, vor ihr an der Wand befindet sich eine Mikrowelle, in der eine Tasse mit Wasser steht. Die Besucher:innen sind dazu eingeladen, den Timer einzustellen und so die Zeit zu definieren, die Kockler eben auf diesem Fahrrad strampeln muss, um durch die dabei erzeugte Energie einen kleinen Wasserkocher zu erhitzen. Ertönt das Piepen der Mikrowelle, steigt die Künstlerin vom Rad, misst die Temperatur beider Flüssigkeiten und - je nachdem wer „gewinnt“ - bekommt der Mensch Sophie oder die Maschine Mikrowelle einen Strich auf der Wand.
Dass das Publikum die Kontrolle über die Zeit der Anstrengung bekommt, erinnert an Abramović berühmte, ebenfalls 6-stündige, Performance Rhythm 0. In jener saß sie in einem Raum, in dem diverse Gegenstände lagen, mit denen die Besucher:innen an der Künstlerin selbst jegliche Handlungen verüben konnten. Darunter eine Feder, Parfüm, Honig, Brot, Trauben, Wein, Scheren, ein Skalpell, Nägel, eine Metallstange und ein geladener Revolver. Abramović war am Ende nicht nur unangebrachten Berührungen und Verletzungen ausgesetzt war, sondern hatte schlussendlich die geladene Waffe am Kopf. Neben der scheußlichen Gewissenlosigkeit der Betrachtenden, bildete sich ebenfalls eine schützende Menge um sie, da sich die Künstlerin keiner dieser Handlungen widersetzte.
Nicht mit dem Einstellen einer Mikrowellenuhr zu vergleichen, der Abramović’sche Geist der Performance ist jedoch deutlich zu spüren. Die Maschine ist hier an sich nicht der Feind. Kockler stellt, einer nüchternen Dokumentation gleichend, das enorme Gefälle und die große Diskrepanz zwischen Mensch und Technik dar. Der Applaus des Publikums, wenn die Künstlerin es schafft, das Wasser durch simple Muskelkraft zu erhitzen, suggeriert dann doch einen „Sieg“ und zeigt wunderbar auf, dass die Betrachter:innen die Deutungsebene beeinflussen (können).
Der Tänzer Camillo Guthmann, der sich in einer Nische befindet und mit Steppschuhen auf Spiegelscheiben herumtanzt, würde dies als Marina Abramović wahrscheinlich barfuß tun. Trotzdem verletzt er sich dabei, die Geräuschkulisse ist ohrenbetäubend, überfordernd und - meines Erachtens - abschreckend. Ich höre, sehe, schmecke und rieche, werde von einer Reizung zur nächsten geworfen, sodass die Verarbeitung des Gesehenen mich wie ein Hammer trifft.
“From a very early time, I understood that I only learn from things I don’t like.“ Keine Kunstkritik ohne Künstler:innenzitat. Die Worte von Abramović klingen nach, nur weiß ich nicht zurecht, ob ich das Gesehene mag, noch ob und was ich gelernt habe. Jedoch hat die Ausstellung was mit mir gemacht, hat mich aufgewühlt, mich empört, mit Ekel, Faszination und Überforderung zurückgelassen. Und ist das im Endeffekt nicht etwas Gutes? Dass die überfüllte Gegenwart mit 54 HOURS PERFORMANCES endlich mit emotionaler Aufladung durchbrochen wird und uns vor Augen hält, wie sich die Kunst mitwandelt?
Jedoch wird es in meinen Augen problematisch, wenn sich hinter großen Namen versteckt wird oder die Demokratisierung der Kunst durch dermaßen Künstler:inneninterne Thematiken wieder gen Unzugänglichkeit führt. Gegenwartskunst beschäftigt sich mit Inhalten und vor allem Problemen des Hier und Jetzt, in dem wir nun mal ALLE leben. Mir ist bewusst, dass jede:r eine eigenen Bewältigungsstrategie - heute ja so schön "coping mechanism" genannt - hat, aber wenn die Kunst nicht mehr ohne Wandtext, gezwungener Vermittlung auskommt, bekommt sie einen unaufgeschlossenen Charakter. Und das kann sie ideologisch zurückwerfen, in eine Zeit, in der nur das Bildungsbürgertum, die akademische Elite, Zugang fand. Der individuelle und intime Inhalt erreicht seinen Höhepunkt und scheint nichts Nachvollziehbares mehr zu haben. Dabei will doch heute jede:r so #relatable sein.