Jürgen Claus starb dieses Jahr im Alter von 88 Jahren in Aachen. Seine letzte museale Einzelausstellung hatte im IKOB 2018 stattgefunden und seither war er dem IKOB und seinen Mitarbeiter:innen eng verbunden. Diese Verbundenheit war getragen von seiner besonderen Art mit Menschen umzugehen. Er war unvoreingenommen, aber nicht ohne Vorurteile, herzlich, aber nicht naiv, lustig, aber nicht spöttisch. Er konnte auch herrisch und fordernd sein, dies war jedoch nur eine der vielen Rollen, die er sich im Laufe seines langen und wechselhaften Lebens angeeignet hatte. Jürgen Claus war Professor, Maler, Strippenzieher, Vernetzer, Kunstkritiker, Autor, Ehemann, Selbstdarsteller. An ihm konnte man sehen, dass solche Rollen gleichermaßen als Ballast und Überlebensstrategie funktionieren können und jederzeit einsatzbereit waren, wann immer er sie brauchte.
Als Kriegskind hatte er gesehen, was der Mensch an Schaden anrichten kann und wurde vielleicht genau deshalb zum Künstler. Hier war es ihm gestattet, etwas aus dem Nichts zu erschaffen und mit Leben zu füllen. Kunst fragt nicht nach dem „es ist schon immer so gewesen“ und auch nicht nach Stand und Status seiner Agent:innen und darum tat es Jürgen Claus auch nicht. Die Kunst war sein System, dem er sich mit Haut und Haaren verschrieben hatte und dem er bis in den Tod treu geblieben ist.
Ich nannte ihn zumeist „Herr Professor“ und er revanchierte sich mit einem „Dr. Moll“. Er wusste natürlich, dass ich keinen Doktortitel besaß, das störte ihn aber auch nicht weiter. Denn er verlieh ihn mir ja regelmäßig – honores c(l)ausa sozusagen. So war er! Er war spendabel und großherzig und er mochte alle, die ihn mochten, also auch mich.
Sein Künstlersein kam jedoch zunächst auf Umwegen zu ihm. Er studierte Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte in München und schlitterte in die Kunstszene Westdeutschlands, die zu jener Zeit nervös vibrierte und aus sich heraus drängte. Die Zero-Künstler:innen und ihre Vor- und Nachfahr:innen hatten es ihm besonders angetan. Mit Otto Piene war er eng befreundet und so wunderte es mich auch nicht sonderlich, als ich erfuhr, dass dieser zusammen mit Nam June Paik in Jürgens Raerener Atelier saß und über die kommende Berufung ans MIT in Boston diskutierte.
Bevor diese Generation die Institutionen eroberte, drängte es sie zunächst auf die Straßen und an die entlegensten Orte der Welt. Sein wahrscheinlich erfolgreichstes Buch „Die Expansion der Kunst" brachte dies auf den Punkt. Die Kunst expandierte, sie war überall zu allen Zeiten und in allen Medien und Jürgen Claus war mittendrin. Medienkunst, Sound Art, Happening – er wusste alles zu bedienen, war zumeist den anderen um Jahre voraus, hatte aber dennoch oder gerade deswegen nicht den großen Durchbruch.
Die Konsequenz war jedoch zu keiner Zeit der Rückzug, sondern immer der kraftvolle Ausweichschritt. Wohin? Ins Meer, bzw. in die Meere. Unter Wasser war der Ort, wo seine Kunst bei sich und er bei ihr sein konnte. Flüchtig, aber eindrücklich baute er Situationen unter Wasser, von denen oft nur Fotos, manchmal Filme und noch öfter Skizzen übrigblieben. Im Meer sammelte er Kraft und Energie und entwickelte immer größere Pläne. Harald Szeemann schlug er für dessen documenta 5 eine riesige Tauchkugel vor, die dem achten Weltwunder der Künstlergruppe Gelitin von der Expo 2000 vieles – wenn nicht alles – vorweggenommen hätte. In Kassel wurde sein Projekt nicht realisiert. Seine Reaktion? Er verließ erneut die Kunstwelt und zeigte einen Prototyp einfach auf der Bootsmesse in Düsseldorf. Sein Publikum fand Claus überall und daher war man auch nirgendwo vor seinen Interventionen sicher.
Ging es um seine ambitionierten Projekte, kam des Öfteren der Konjunktiv ins Spiel. Man könnte es bauen, man würde sich melden, man hätte es gerne gemacht … Jürgen waren diese Stimmen egal. Eines seiner größten Talente lag in seiner Fähigkeit, dem Konjunktiv geschickt auszuweichen. Hätte Harald Szeemann ihn nur zur documenta 5 geholt, … ja was dann? Ich behaupte, es wäre alles genauso gekommen, wie es gekommen ist. Er wäre ausgewichen und hätte einfach andere Bastionen eingenommen. Der spektakuläre Ausweichschritt war seine Signatur. Systemisch gesprochen, war ihm das Außen immer verheißungsvoller als das Innen, der Rand interessanter als das Zentrum. Seine vielfältigen Rollen halfen ihm dabei, sich immer genau dort einzurichten, womit er sich zwar einerseits zum Außenseiter machte, aber zu einem der bestvernetzten Außenseiter, den ich bisher in der Kunstwelt kennengelernt habe. Er blieb der Expansion der Kunst immer treu, als Künstler, Autor, Kunsthistoriker, Aktivist und Privatier.
Auch Karriereratgeber gehörte zu seinem Repertoire. „Schreib mehr, du musst dir einen Namen aufbauen“ war einer seiner wiederkehrenden Ratschläge an mich. Ich nickte und wusste, dass keiner so viel schreiben konnte, wie Jürgen Claus, der noch mit 87 einen Nachruf auf seinen Freund Peter Weibel geschrieben hatte, nachdem er mit 86 sein letztes Buch auf Englisch mit einem Verlag in Singapur publiziert hatte. War kein Verlag zur Hand, zögerte er nicht lange und tat es einfach selbst. Seine Bücher erschienen oft in kleiner Auflage als Edition. Die Grafik war fast immer von ihm selbst in einer unbeschreiblichen Ästhetik, die kein Designer hätte reproduzieren können, zu selbstbewusst mischte er Fonts und Abbildungen. Zu retrofuturistisch seine Farben und Formen.
Seine Ausstellung im IKOB 2018 nannte er „Je suis Atoll“ und zitierte damit eine Aussage Paul Valérys, der damit in einem Brief an André Gide seine Selbstwahrnehmung als Autor, Philosoph und Dichter beschrieb. Ein Atoll ist ein ringförmiges Riff, in der Regel ein Korallenriff, das eine Lagune umschließt. Das Besondere an Atollen ist dessen gleichzeitige Ab- und Aufgeschlossenheit. Oft bilden Atolle biologische Mikrosysteme aus, die zwischen Innen und Außen vermitteln können. Die Grenze zwischen Innen und Außen ist dabei oft durchlässig und kaum sichtbar.
Autark und resilient – so sind Atolle und so war Jürgen Claus. Der Titel der Ausstellung wurde damit zu einem Bekenntnis und Lebensmotto. So war auch seine Ausstellung: einerseits ausufernd, überbordend, selbstreferenziell und gleichzeitig kommunikativ, einladend und konzentriert. Die Ausstellung hätte der Auftakt vieler anschließender Ausstellungen werden können, aber es ist nicht mehr dazu gekommen. Dem Konjunktiv des „hätte können“ wich Jürgen Claus aber erneut gekonnt aus. Er malte, bzw. collagierte Bilder, die sein Verhältnis zu den alten Meistern in den Fokus nahmen. Die letzte Schaffensphase war sicherlich eine der konzentriertesten. Der Wunsch diese in einem Museum in den Niederlanden oder Belgien auszustellen ist ihm verwehrt geblieben, stattdessen sortierte er seinen intellektuellen und künstlerischen Nachlass, der sich nun im ZKM in Karlsruhe befindet.
Aber vielleicht war es ihm ja nie um Erfolg, sondern ums Machen selbst gegangen. Das Privileg, das er am heftigsten verteidigt hätte, war das Privileg Künstler sein zu können. Sein letzter Ausweichschritt führte ihn dann auch konsequenterweise in das Reich des Todes. Ein Schritt, dem er wie allem mit Neugierde und Witz begegnete. Lieber Jürgen, ich schließe diese kurze Liebeserklärung mit der Adaption deines Ausstellungstitels und sage leise „Nous sommes Atoll“ – du wirst uns fehlen!
Hier finden Sie Informationen zur Ausstellung „Je suis Atoll“.
Einen Gratis-Downloadlink zu dem ausstellungsbegleitenden Bulletin finden Sie hier.
Im Online-Shop des IKOB finden Sie zudem zwei exklusive Zeichnungen des Künstlers zum Vorzugspreis von 200 EUR (zzgl. Versandkosten).