21.08.2023, 11:55, Brenda Guesnet

IKOB Podcast - apropos #8 Barbie w/ Angyvir Padilla↓︎

Diese Ausgabe von apropos ist in englischer Sprache // This episode of apropos is in English

In this episode of 'apropos', we talk about the piece of plastic that has been making people feel things for more than 60 years: the Barbie doll – and, more specifically, the new Barbiefilm directed by Greta Gerwig. Together with artist Angyvir Padilla we reminisce about early Barbie memories, make connections between Barbie and artmaking (could Barbie be an artist?!) and unpack some of the controversy surrounding the film. Along the way, enjoy musical breaks with our very own Barbie tracklist featuring Georgia, SOPHIE, Grimes, Blondie and more.

This episode appears in connection with the group exhibition ALL OUR YESTERDAYS, featuring works by Lili Dujourie, Sophie Nys and Angyvir Padilla. On view at IKOB from 02.05. - 27.08.2023.

Angvir Padilla (*1987 in Caracas, Venezuela, lives and works in Brussels) creates immersive installations that distill the concept of "home" as an intimate place and relate this concept to people and nature. Padilla's artistic training took place in Belgium, first at ARBA in Brussels (2011-12), then at ENSAV La Cambre (2012-15) and Luca School of Arts (2016-18). In 2020 she was the third winner of the ArtContest and in 2021 she won the first prize of the Friends of the S.M.A.K.. Other presentations have taken place at the Krasj Festival in Ninove (2022), the Ithaka Festival in Leuven (2019), CIAP, Genk (2022), the S.M.A.K Museum and Cas-co Leuven (2018), while she has also made a name for herself internationally with exhibitions in Paris, Dunkerque, Belgrade, Athens and Caracas. She recently completed the Fiminco Foundation residency program in Paris.

Hosted by Studio Néau.

Featured tracks:

Euphoric - Georgia
California - Grimes
Untitled - Domino Hex
SOPHIE - Immaterial
Heart of Glass - Blondie
The Only Place - Best Coast
It's My House - Diana Ross
Luna - Domino Hex
Barbie Girl (mixed) - Aqua

31.07.2023, 10:20, Lara Duyster

Marina Abramović und ihre Jünger:innen↓︎

Die Schlange ist lang, aber man nimmt sich die Zeit. Immerhin handelt es sich um Marina Abramović, die kuratiert und zeigt, was sie während der Pina Bausch Professur an der Folkwang Universität der Künste gelehrt hat. Marina Abramović, die wohl bekannteste Performancekünstlerin unserer Zeit, Marina Abramović, die „Schmerzensmadonna“ der Kunst. Vom 30. Juni bis 9. Juli 2023 konnten die Long Durational Performances der Studierenden im Folkwang Museum, Essen besucht werden. 24 Studierende, 54 Stunden. Wie die zeitgenössische Performancekunst vermuten lässt, geht es um Körper, Identität und das Innerste der Künstler:innen, die - ganz dem Folkwanggedanken folgend - aus verschiedenen Bereichen wie Schauspiel, Gesang, Musik, Tanz und Fotografie stammen. Aber vor allem geht es um Ausdauer.

In einem Gespräch mit dem WDR erzählt Abramović vom Workshop Cleaning the House, den sie bereits in den 70er Jahren zusammen mit ihrem damaligen Partner und verstorbenem Künstler Ulay durchführte. Die 24 Studierenden ihrer Klasse werden an „zu kalte oder zu warme Orte“ gebracht, bekommen 5 Tage lang nichts zu essen, dürfen 5 Tage lang nicht reden und werden 5 Tage lang um 4 Uhr morgens geweckt, um mit einem Eisbad den Tag zu starten. Selbstgeiselung vor der eigentlichen Performance. Sind dies nicht auch Methoden der Folter? Die totale (und körperliche) Selbstaufgebung für die Kunst? Marina Abramović sagt zwar selbst, sie wolle keine 24 Abramović erschaffen, scheint durch derartige Methoden jedoch den Weg dafür zu ebnen. 

Jede:r an einem festen Ort, drapiert wie ein bewegtes Kunstwerk, befinden sich die Performancekünstler:innen im Museumsraum. Bedingt durch die verschachtelte Ausstellungsarchitektur, ist bereits beim Eintreten ins Folkwang Museum ein akustischer Vorgeschmack auf das Zusehende gegeben. Soprangesang, Stimmengewirr, Saxophonklänge und Spiegel, die klirrend zerbersten. Statt sinnesumfassend empfand ich es eher als reizüberflutend. In jeder Ecke gibt es Spektakel, aus jeder Ecke kommen Geräusche oder Stimmen. Die massive Überfüllung durch die Besucher:innen verstärkt diese Überstimulation.

Frederico Mendes Teixeiras hochhackigen Yellow Shoes, sollen in der gleichnamigen Performance zwar die Aufmerksamkeit des Betrachtenden auf sich ziehen, jedoch lediglich bis der Tänzer sich komplett - bis auf die Yellow Shoes natürlich - seiner Kleidung entledigt und man sich mit dem Geschlecht eines fremden Mannes konfrontiert sieht. Erst beim Verlassen des Hauses und durch mein explizites Suchen, fällt mir eine Warnung am Eingang ins Auge, in der u.a. auf Nacktheit verwiesen wird. Durch die Geräuschkulisse und das erwartbare Spektakel in der Ausstellung habe ich diesen Hinweis übersehen und war damit bestimmt nicht die einzige. Man mag mich prüde oder konservativ nennen, jedoch wäre meines Erachtens eine deutlichere „Warnung“ angebracht. Körperkunst muss in meinen Augen keine Körperschau sein. Dabei geht es mir nicht um die Platitude „Und das soll Kunst sein?!“, was der Performancekunst oft durch die Abgrenzung zur traditionellen Formensprache der Moderne vorgeworfen wird, sondern um den leichtesten Weg der Reizung. Nackt sein können wir alle. Bei dermaßen nach außen gezeigter Intimität, bleibt der übrig gebliebene Inhalt beinahe am Rand der Nichtigkeit. Wenn dies jedoch der Sinn war, dann kann ich absolut nicht nachvollziehen, was Abramović dem Tänzer während der Pina Bausch Professur beigebracht hat. 

Der Kunstbegriff wandelt sich; das ist mir bewusst. Während es im letzten Jahrhundert à la Neue Sachlichkeit oder Expressionismus um kollektive Verarbeitung des Zeitgeschehens ging, spielt sich die Gegenwartskunst im Innersten der Künstler:innen ab, ein neuer Freiheitsbegriff entstand und man löste sich von ästhetischen Idealen. Das Individuum steht nun im Vordergrund und dessen Umgang mit dem politischem/gesellschaftlichem hier und jetzt. Aber wieso hat Klara Günther den Drang, einen ihrer Alpträume, sich in ein Huhn zu verwandeln, einem Publikum zu zeigen? Zu Beginn der Performance - oh Wunder - komplett nackt, reibt sie sich über die Zeit hin mit Rübenkrautsirup und Federn ein, bis sie sich in eben jenes Huhn transformiert. Woraus ergibt sich für den Betrachtenden der Mehrwert? Was hat es für einen Sinn, jene Thematik mit einem Publikum zu teilen? 

Gewiss, Kunst tut uns nicht den Gefallen, uns zu gefallen, wie der Kunsthistoriker Jean-Christophe Ammann so schön gesagt hat, sondern sei „vielmehr ein sinnlich wahrnehmbarer Denkgegenstand“. Ich nehme sinnlich wahr, sehe den unter Federn versteckten Körper, rieche den süßen Sirup und denke über den Alptraum der Künstlerin nach. Zwar bin ich prinzipiell der Meinung, Kunst kann eben doch jenen oft kritisierten dekorativen Charakter haben, jedoch schreit die komplette Ausstellung nach Sinnhaftigkeit und Bedeutung. Somit stellt sich mir dann wiederum die Frage, ob derartige Gegenwartskunst wirklich so niedrigschwellig sein will oder sich hinter vermeintlichen Metaebenen versteckt.

Da macht es Aleksandar Timotic meines Erachtens besser. Der in Serbien geborene Opernsänger sitzt 6 Stunden pro Tag an einem großen runden Tisch, schält einen Berg aus Kartoffeln und singt dabei Opernarien. Den Hintergrund findet sich in seiner Heimat und der dort herrschenden Kultur. Zuneigung werde dort kaum über Worte oder körperliche Gesten ausgedrückt, sondern durch das Anrichten von Essen. „Are you hungry?“ statt „I love you.“ Diese simple Handlung und die Möglichkeit als Besucher:in am Kartoffelschälen zu partizipieren, bildet und bildet ab. Es wird ein Aspekt einer Kultur repräsentiert und das auf so eine schöne und rührende Art und Weise, die sensibel damit umgeht. 

Sophie Kocklers Arbeit How To Become A Microwave ist ebenfalls sehr niederschwellig. Die Künstlerin sitzt auf einem Fahrrad, vor ihr an der Wand befindet sich eine Mikrowelle, in der eine Tasse mit Wasser steht. Die Besucher:innen sind dazu eingeladen, den Timer einzustellen und so die Zeit zu definieren, die Kockler eben auf diesem Fahrrad strampeln muss, um durch die dabei erzeugte Energie einen kleinen Wasserkocher zu erhitzen. Ertönt das Piepen der Mikrowelle, steigt die Künstlerin vom Rad, misst die Temperatur beider Flüssigkeiten und - je nachdem wer „gewinnt“ - bekommt der Mensch Sophie oder die Maschine Mikrowelle einen Strich auf der Wand.

Dass das Publikum die Kontrolle über die Zeit der Anstrengung bekommt, erinnert an Abramović berühmte, ebenfalls 6-stündige, Performance Rhythm 0. In jener saß sie in einem Raum, in dem diverse Gegenstände lagen, mit denen die Besucher:innen an der Künstlerin selbst jegliche Handlungen verüben konnten. Darunter eine Feder, Parfüm, Honig, Brot, Trauben, Wein, Scheren, ein Skalpell, Nägel, eine Metallstange und ein geladener Revolver. Abramović war am Ende nicht nur unangebrachten Berührungen und Verletzungen ausgesetzt war, sondern hatte schlussendlich die geladene Waffe am Kopf. Neben der scheußlichen Gewissenlosigkeit der Betrachtenden, bildete sich ebenfalls eine schützende Menge um sie, da sich die Künstlerin keiner dieser Handlungen widersetzte.

Nicht mit dem Einstellen einer Mikrowellenuhr zu vergleichen, der Abramović’sche Geist der Performance ist jedoch deutlich zu spüren. Die Maschine ist hier an sich nicht der Feind. Kockler stellt, einer nüchternen Dokumentation gleichend, das enorme Gefälle und die große Diskrepanz zwischen Mensch und Technik dar. Der Applaus des Publikums, wenn die Künstlerin es schafft, das Wasser durch simple Muskelkraft zu erhitzen, suggeriert dann doch einen „Sieg“ und zeigt wunderbar auf, dass die Betrachter:innen die Deutungsebene beeinflussen (können). 

Der Tänzer Camillo Guthmann, der sich in einer Nische befindet und mit Steppschuhen auf Spiegelscheiben herumtanzt, würde dies als Marina Abramović wahrscheinlich barfuß tun. Trotzdem verletzt er sich dabei, die Geräuschkulisse ist ohrenbetäubend, überfordernd und - meines Erachtens - abschreckend. Ich höre, sehe, schmecke und rieche, werde von einer Reizung zur nächsten geworfen, sodass die Verarbeitung des Gesehenen mich wie ein Hammer trifft. 

From a very early time, I understood that I only learn from things I don’t like.“ Keine Kunstkritik ohne Künstler:innenzitat. Die Worte von Abramović klingen nach, nur weiß ich nicht zurecht, ob ich das Gesehene mag, noch ob und was ich gelernt habe. Jedoch hat die Ausstellung was mit mir gemacht, hat mich aufgewühlt, mich empört, mit Ekel, Faszination und Überforderung zurückgelassen. Und ist das im Endeffekt nicht etwas Gutes? Dass die überfüllte Gegenwart mit 54 HOURS PERFORMANCES endlich mit emotionaler Aufladung durchbrochen wird und uns vor Augen hält, wie sich die Kunst mitwandelt?

Jedoch wird es in meinen Augen problematisch, wenn sich hinter großen Namen versteckt wird oder die Demokratisierung der Kunst durch dermaßen Künstler:inneninterne Thematiken wieder gen Unzugänglichkeit führt. Gegenwartskunst beschäftigt sich mit Inhalten und vor allem Problemen des Hier und Jetzt, in dem wir nun mal ALLE leben. Mir ist bewusst, dass jede:r eine eigenen Bewältigungsstrategie - heute ja so schön "coping mechanism" genannt - hat, aber wenn die Kunst nicht mehr ohne Wandtext, gezwungener Vermittlung auskommt, bekommt sie einen unaufgeschlossenen Charakter. Und das kann sie ideologisch zurückwerfen, in eine Zeit, in der nur das Bildungsbürgertum, die akademische Elite, Zugang fand. Der individuelle und intime Inhalt erreicht seinen Höhepunkt und scheint nichts Nachvollziehbares mehr zu haben. Dabei will doch heute jede:r so #relatable sein.

03.07.2023, 14:25, Frank-Thorsten Moll

Von Wunderkammern und Bad Banks - Überlegung zur Zukunft der Museen↓︎

Sammeln, Bewahren und Forschen waren lange Zeit die Hauptaufgaben von Museen. Diese heilige Trias steht bis heute in den Richtlinien des internationalen Museumsverbandes ICOM, und werden daher jedes Mal Punkt für Punkt abgehakt, wenn es darum geht, unseren Geldgeber:innen Rechenschaft über erfolgreiches Arbeiten abzulegen.

Wären dies die einzigen Aufgaben, die an Museen und ihr Personal herangetragen werden, könnte man sich als Museumsverantwortlich:e wahrscheinlich nicht beklagen. Heute, so ist leider die Realität vieler Museen, kommt eine ständig wachsende Palette von zusätzlichen Aufgaben hinzu, an denen wir alle mehr oder weniger scheitern.

Tatsächlich müssen Museen heute Antworten auf so ziemlich alle Fragen und gesellschaftlichen Problemkonstellationen parat haben. Inklusion ermöglichen, Teilhabemöglichkeiten schaffen, Bildung für Jung und Alt anbieten, attraktive Lernorte bereithalten, als Nachhaltigkeitsschule agieren, selbstverständlich Diversität leben, niedrigschwellige Erlebnisräume gestalten, bei der digitalen Vermittlung voranschreiten und innovative Formate der Museumsarbeit entwickeln. Dass dies alles mit immer weniger Geld, immer größerem Erfolgsdruck und oftmals utopischen wirtschaftlichen Erfolgszielen erreicht werden soll, macht die Arbeit derweil nicht leichter.

Tritt man einen Schritt zurück und betrachtet die Situation von außen, könnte man sich ernsthaft fragen, woher die Idee stammt, dass Museen überhaupt in der Lage seien, all diese gesellschaftlichen Probleme exemplarisch und vorbildhaft zu lösen, wo doch Politik und Wirtschaft in genau denselben Disziplinen mit ungleich größeren Ressourcen an Geld, Personal und Expertise oftmals scheitern.

Ich bin fest davon überzeugt, dass man uns die ganzen unerfüllbaren Aufgaben übergibt, weil man tatsächlich nur uns zutraut, mit der Komplexität dieser Aufgaben tatsächlich klarzukommen. So unglaublich dieses Maß an Vertrauen in unsere Fähigkeiten zunächst klingen mag, so sehr ist dieses Vertrauen in der Geschichte der Museen verankert. Denn schon immer waren Museen so eine Art Bad Bank des kollektiven schlechten Gewissens und in dieser Funktion physische Lager- und diskursive Austragungsorte von so ziemlich allem was ansonsten schwer einzuordnen war.

Ordnung schaffen war sicher die erste aber auf keinen Fall die vornehmste Aufgabe, die den Museumsmacher:innen dereinst ins Stammbuch geschrieben wurde. Fürst:innen und König:innen übergaben ihre gesammelten Mitbringsel und Gastgeschenke unter dem Deckmantel humanistischer Bildung an jemanden, der:die landläufig als gebildet erachtet wurde und dem:der man dann sagen konnte: „Mach Dir einen Reim darauf und lass uns alle vergessen, wieviel Blut an diesen Objekten klebt!“. Mit diesem Auftrag war die Wunderkammer - mit all ihren rassistischen und kolonialistischen Implikationen - geboren.

Die kurz danach aufkeimende Idee diese immer größer gewordenen Kammern dem Bürgertum zugänglich zu machen, war im Rückblick sicher der genialste Taschenspielertrick, um aus den geraubten, ergaunerten oder erpressten Gegenständen doch noch einen moralischen Mehrwert zu produzieren. Da dieser auch vermittelt werden musste, war die Museumspädagogik ergo der pädagogische Auftrag der Museen geboren, der fortan konstant intensiviert wurde. Er zog immer weitere Kreise, von den Bürger:innen mit Bürgerrechten auf die Bürger:innen im allgemeinen, die Arbeiter:innen, die Bauern und Bäuerinnen, von Kindern bis zu Rentner:innen. Und so wurde aus einer moralischen Bankrotterklärung ein Erfolgsmodell, das wir heute Museum nennen.

Seither ist viel passiert, könnte man meinen. Kolonialismus und Imperialismus sind als der dunkle Schatten der Moderne thematisiert worden und der entfesselte Kapitalismus dient als Bühnenbild einer postmodernen Kulturpraxis. Und die Kunst? Sie hat seit dem Zweiten Weltkrieg derweil mit großem Erfolg die Rolle der Wunderkammern übernommen. Doch, so meine These, die Rolle der Museen als ästhetische und diskursive Bad Bank des schlechten Gewissens einer Gesellschaft bleibt auch weiterhin bestehen und erklärt viele Missverständnisse in der Fremd- und Eigenwahrnehmung der Museen.

Die Metapher der Bad Banks stammt zunächst aus dem Kontext der Finanzkrise. Hier versprach die Einrichtung von Bad Banks den taumelnden Banken, sich von ihren risikobehafteten Papieren elegant zu trennen. Die einzige Aufgabe der Bad Banks war es, die Risikopapiere der anderen aufzukaufen, bei Gelegenheit möglichst gut zu verkaufen oder bei Unverkäuflichkeit als Verlust abzuschreiben - sodass die „guten“ Banken bilanziell nicht mehr belastet werden. Dasselbe, möchte ich behaupten, machen Museen für ihre Gesellschaften.

Vor nicht allzu langer Zeit wurde den Museen eine unlösbare Frage überstellt: Wie ist es machbar, gleichzeitig immer reicher werden zu können (Akkumulation), aber auf immer begrenztere Ressourcen blicken zu müssen (Nachhaltigkeit)? Und es fand sich tatsächlich eine Antwort. Die Lösung des Kunstsystems war einfach und genial: Es hat auf Objekte zurückgegriffen, die es bereits gab und erschloss einen Nachlass verstorbener und zuvor vergessener Künstler:innen nach dem anderen. Dadurch wurden enorme Wertsteigerungen erzielt. In diesem Kontext wird gerade der Erfolg der klassischen Moderne in den Auktionshäusern als Naturgesetz erachtet. Man vergisst jedoch, dass die Zeit, als man die Picassos und Degas im PKW zur nächsten Ausstellung fuhr, noch gar nicht so lange her ist, wie man meinen könnte. Und heute? Heute schickt sich das System an institutions- und kunstmarktkritische Künstler:innen als Spekulationsobjekte zu handeln und erneut hilft die Kunstgeschichte fleißig mit.

Wir als Museumsarbeiter:innen sind natürlich ebenfalls Vertreter:innen des Kunstsystems und sind damit ebenfalls die Apologet:innen einer Wertakkumulationsmaschine (Kunstsystem) die bisher jeder Krise getrotzt hat und daher von allen anderen Systemen neidisch beäugt wird. Das Kunstsystem – seien wir mal ehrlich - ist eine radikale Zuspitzung aller kapitalistischer Imperative. Das öffentliche Abfeiern immer neuer Rekorderlöse bei Auktionen ist daher auch kein Missverständnis einer fehlgeleiteten Öffentlichkeit, als dass die Gralshüter:innen der Kunst diese oft empfinden. Es ist vielmehr ein Kniefall vor dem Kunstsystem – eine ehrfürchtige Verbeugung vor dem Beharrungsvermögen an alten – intellektuell längst ad absurdum geführten – Werten und Normen. Wir Museumsmacher:innen, sehen uns bequemerweiseoftmals nur als entfernte Verwandte dieses turbokapitalistischen Kunstsspekulationssystems. Dies wäre zu kurz gedacht, denn nachdem wir uns diesbezüglich ehrlich gemacht haben sollten wir lernen, dies zu akzeptieren und uns zu Nutze machen.

Das Unterbewusste unserer Gesellschaften weiß offenbar viel besser über unsere Fähigkeit Sinn aus Unsinn, Wert aus Unwertem und Geschichte aus dem Vergessenen zu schaffen, als wir selbst. Dies kombiniert mit einem hohen Maß an Resilienz und Begeisterungsfähigkeit ist das Material aus dem wir die Zukunft der Museen gestalten sollten. Im übertragenen Sinn, sollten wir lernen die ungedeckten Schecks, das Falschgeld und die Aktien nicht existierender Firmen, sprich alle Inhalte, die uns als Bad Bank übermittelt von der Gesellschaft zur Verwahrung anvertraut wurden, zurückzutauschen und in echten Mehrwert zu verwandeln: In Werte, die gespeist werden von Begegnungen, Verhandlungen und Diskussionen über die Frage, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen. Nur so wird es uns gelingen, nicht mehr als Orte des externalisierten schlechten Gewissens (Bad Banks), sondern als Möglichkeitsräume einer offenen Gesellschaft erkannt zu werden.

05.06.2023, 10:40, Brenda Guesnet

Eine Leseliste für ALL OUR YESTERDAYS↓︎

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Lili Dujourie, Roman (5), 1979, Collage auf Papier. Courtesy S.M.A.K., Foto: Dirk Pauwels

In unserer aktuellen Gruppenausstellung hängt eine Arbeit von Lili Dujourie aus dem Jahr 1979, die den Titel Roman (5) trägt. Die Arbeit besteht aus einem langen Papierbogen, auf dem Papierstücke angebracht sind, ausgerissen aus Zeitschriften und Werbeprospekten. Die Ecke eines Schlafzimmers, roter Seidenstoff, eine Dose Lancôme-Hautcrème, eine sich beugende Welle am Strand. Auch wenn der Titel der Arbeit suggeriert, dass es sich hier um eine Geschichte mit Anfang und Ende handelt, ist es wegen der großen Abstände zwischen den Schnipseln unmöglich, diese Erzählung in ihrer Gesamtheit zu betrachten.

Auch sonst zieht sich ein literarischer Leitfaden durch die Ausstellung ALL OUR YESTERDAYS [Alle unsere Gestern] mit Arbeiten von Lili Dujourie, Sophie Nys und Angyvir Padilla: angefangen beim Titel der Ausstellung, der sich auf einen Roman der italienischen Autorin Natalia Ginzburg bezieht. Die Arbeiten der drei Künstlerinnen erzählen oft selbst eine Geschichte, bei der sie aber vieles weglassen und die Betrachtenden dazu einladen, die Lücken zu füllen. Mit den folgenden Büchern und Texten könnt ihr in die Welt dieser Ausstellung eintauchen: es geht um zuhause, Zeitlichkeit, das Sich-Erinnern, und die Fallen der Femininität. Ich kann aber jedes dieser Bücher auch so empfehlen, als Sommerlektüre, mit Wellen am Strand.

Alle unsere Gestern - Natalia Ginzburg

Die Handlung dieses wunderbaren Romans ist im Italien des Zweiten Weltkriegs angesiedelt. Eine junge Protagonistin kristallisiert sich allmählich aus einem komplexen Geflecht von Familienbeziehungen heraus, ihr inneres Leben wird dabei in die radikalen sozialen und politischen Umwälzungen eingebettet, die um sie herum passieren. Ginzburg gelingt es, erschütternde Ereignisse im Familienleben und im Krieg gleichermaßen zu gewichten, und treibt die Erzählung mit Leichtigkeit voran.

Die Jahre - Annie Ernaux

Hierbei handelt es sich um das wohl bekannteste Werk der Nobelpreisträgerin für Literatur Annie Ernaux. Ausgehend von einem schwarz-weißen Foto aus ihrer Kindheit, auf dem sie am Strand von Sotteville-sur-Mer zu sehen ist, beschreibt Ernaux ihr Leben im Besonderen, und gleichzeitig das Leben im Allgemeinen, unser alle Leben. Eine »unpersönliche Autobiographie«, die uns durch die Nachkriegszeit bis in die Gegenwart trägt. 

Alle_Zeit - Teresa Bücker

Ein neues Sachbuch mit wichtigen Überlegungen zu einer sozial gerechteren Zeitkultur. Zeit ist das vielleicht wichtigste Gut in unserer Gesellschaft: wir alle wünschen uns mehr Zeit, aber sie ist nicht kaufbar, tauschbar, oder dehnbar. Und doch steht Zeit und die Entscheidung darüber, wie wir sie verbringen, nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung. Die Journalistin Teresa Bücker macht konkrete Vorschläge für einen anderen Umgang und eine neue Wertschätzung von Zeit, in Politik, Gesellschaft und in uns selbst.

Stirb doch, Liebling - Ariana Harwicz

Dieser Roman macht süchtig — und wie die meisten Suchten ist er auch schwer zu ertragen. Eine junge Mutter fühlt sich gefangen in ihrer neuen Hausfrauenrolle in der französischen Provinz und wird langsam, aber sicher zum Wahnsinn getrieben. Meist ist es unklar, welche der fantastischen und gewaltvollen Szenen sich nur in ihrem Kopf abspielen und welche “echt” sind, als Lesende erleben wir die Welt in ihrem Gehirn. Franz Kafka sagte, “ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns” — hier eine treffende Beschreibung. 

Die Schwerelosen - Valeria Luiselli

Eine junge Frau lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in einem Haus in Mexiko City und schreibt an einem Roman. Sie verlässt das Haus nicht, aber fühlt sich auch nicht zuhause. Also beginnt sie zu erzählen. Von ihrem Mann, von ihren Kindern, von ihrer Vergangenheit. Ähnlich wie Lili Dujouries’ Film Passion de l'été pour l’hiver (1981), in der Ausstellung zu sehen, ist dieser Roman ein Einfrieren von Zeit, ohne die Bewegung der Dinge anzuhalten. Das Leseerlebnis selbst wird zu einer Art Schwerelosigkeit.

Drinking from the Water-Clock: Time and Speech in Imperial Rome - James Ker (EN)

In diesem akademischen, poetischen Artikel des Historikers James Ker geht es um die Klepsydra oder die Wasseruhr, ein seit der Antike verwendetes Instrument, um kurze Zeitspannen zu messen. In der Ausstellung spielt die Klepsydra eine wichtige Rolle — Sophie Nys’ hat eine Wasseruhr aus Plastikeimern und einer Kirchenbank gefertigt, die für Besucher:innen aktiviert wird und sie in der Ausstellung durch das Geräusch des tropfenden Wassers begleitet. Auch wenn sie als Objekt erstmal banal erscheint, hatte die Klepsydra schon für die alten Römer eine existentielle Bedeutung. Es war der Philosoph Seneca, der schrieb: „genau wie es nicht der letzte Tropfen ist, der die Wasseruhr leert, sondern alle Tropfen, die schon vorher geflossen sind, so ist der letzte Moment eines Lebens nicht der, der den Tod herbeiführt, sondern nur der, der das Ende vollzieht.“ Hier ist ein Link zur PDF.

14.05.2023, 11:00, IKOB

IKOB Podcast - apropos #7 Performing landscapes w/ Stefania Crișan & Isolde Venrooy↓︎

Diese Ausgabe von apropos ist in englischer Sprache // This episode of apropos is in English

Sponges, stones and dinosaurs: this episode of 'apropos' gives our listeners a sneak peek into the studios of artists Stefania Crișan and Isolde Venrooy at Greylight Projects in Heerlen, The Netherlands. The two artists are currently working on new performances for the upcoming "performing landscapes" festival to take place at IKOB on Saturday, 2nd September 2023 in collaboration with the Very Contemporary network.

Isolde Venrooy (b. 1977 in Rosmalen, NL, lives and works in Nijmegen, NL) works with objects, interventions and walks to form an artistic practice that is rooted in ecological thinking and making. Together with participants, co-authors, friends and passers-by, she experiments with forms of collaboration, exploring, giving and receiving. Venrooy‘s work has been exhibited at TENT in Rotterdam, Zone2Source in Amsterdam and De Fabriek Eindhoven, among other places, and her artistic practice is supported by the Mondriaan Fund.

Stefania Crișan (b. 1993, Timisoara, RO, lives and works in Metz, FR) is interested in themes connected to the anthropocene, questioning the paradoxes between the horror and the beauty of catastrophe. Her practice is marked by a landscape that was devastated through ecological disaster, that of the village of Geamăna in Romania, deliberately flooded in the 1970s and turned into a settling pond for copper mining activities. Crișan is the winner of the 2022 Luxembourg Encouragement for Artists Prize (LEAP) and has exhibited at FRAC Lorraine, Casino Luxembourg, Stadtgalerie Saarbrücken and Centre Pompidou-Metz.

Hosted by Studio Néau.

Sound credits:

Visible Cloaks (mix)
Stefania Crișan playing a drum
Arp - Sponge (for Miyake)

04.04.2023, 11:35, Lara Duyster

Ethikrat im Düsseldorfer Schauspielhaus↓︎

Am 13.11 habe ich das Theaterstück Gott von Ferdinand von Schirach besucht. Wer die Stücke des Rechtsanwaltes kennt, weiß auch, dass er die Betrachtenden gern zum Teil der Erzählung macht. Als jener findet man sich vor einem schlichten Bühnenbild wieder, wir, das Publikum, schlüpfen in die Rolle des deutschen Ethikrates und auch wir, jeder Einzelne, gibt am Ende des Stückes eine Stimme ab. Die Frage: Darf man Sterbehilfe leisten, wenn die betroffene Person ohne Erkrankung einfach keinen Lebenswillen hat? Zur argumentativen Stütze sprechen diverse Expert:innen auf der Bühne, beziehungsweise in dem Verhandlungsraum, welchen diese darstellt. Geladen sind eine Rechtssachverständige, ein medizinischer und ein theologischer Sachverständiger, allesamt in hohen Ämtern ihres Fachs, allesamt gebildet und belesen. 

Der eigentliche Protagonist, Herr Gärtner, der nach dem Tod seiner Frau selbst nicht mehr unter den Lebenenden weilen möchte, ist nicht vor Ort, sondern wird in regelmäßigen Abständen über kurze Videos auf Leinwände im Bühnenbild projiziert. Das Thema und die Unbequemheit, sich damit auseinaderzusetzen, wird durch die Nüchternheit und Reduzierung des Szenebildes untermalt. Die visuellen Bezeichnungen der Redner:innen stehen im vermeintlichen Kontrast zu den Zwischensequenzen Herr Gärtners, welche einem erneut das Einzelschicksal vor Augen führt. Seine direkten Ansprachen an das Publikum könnte auch als Manipulation gewertet werden. Seine monumentale Erscheinung, die doppelten Leinwände erzeugen eine wahnsinnige räumliche Tiefe und transformieren diese auch in das Stück hinein.

Gott schaftt es, eine vermeintlich trockene Auseinandersetzung  dermaßen zu emotionalisieren, dass ich teilweise dazwischenrufen wollte und das obwohl ich jedem Kellner freundlich zulächle, wenn er mir das falsche serviert hat. Es ist lange her, dass ich mit so viel Redebedarf und Gedanken ein Theater verlassen habe. Rund ums Schauspielhaus konnte man Stimmen, Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten hören, als würde das Stück über die architektonischen Grenzen hinaus weiterspielen. Und das ist die eigentliche Konklusion: Die Frage nach dem Tod, die Frage, wie man sterben will oder wann: Das sind Themen, von denen sich niemand frei machen kann, sie kommen unausweichlich auf uns zu und deshalb zwingt das Stück einen jeden Betrachtenden, sich diesen Fragen zu stellen - und, noch viel wichtiger: Einzugestehen, dass es für Vieles einfach keine Pauschallösungen gibt und dass dafür auch keinen Anspruch besteht. Dass es aber auch okay ist, zu gewissen Dingen (noch) keine Meinung zu haben - und, gewiss: Der Klassische "Sei dir der Sterblichkeit bewusst"- Gedanke. Hier jedoch dermaßen verklausuliert und kolossal heruntergebrochen, dass memento mori selbst nach einem Paragrafen klingt. 

12.03.2023, 11:00, IKOB

IKOB Podcast - apropos #6 Westalgie w/ Henrike Naumann, Tom Bogaert & Merle Vorwald↓︎

Diese Ausgabe von apropos ist in englischer Sprache mit einigen Videoausschnitten in deutscher Sprache. // This episode of apropos is in English with some video excerpts in German.

Artists Henrike Naumann, Tom Bogaert and Merle Vorwald have two things in common: they are currently presenting solo exhibitions at IKOB, and they all share an interest in the personal and collective trauma brought about by national histories. Henrike Naumann investigates the repercussions of the so-called German reunification through the vehicle of furniture and interior design. Tom Bogaert calls attention to Flemish nationalism through his former involvement in a flag thrower’s association. And Merle Vorwald mines her childhood memories of her Nazi grandfather to address right-wing tendencies in today’s Germany.

We asked the artists to tell us more about the triggers for their works, about their views on language and aesthetics, and what makes their collaboration at IKOB in the context of East Belgium special. Henrike Naumann: WESTALGIE, Merle Vorwald: DAUERGLOSS and Tom Bogaert: VENDELZWAAIER – FLAGGENWERFER are on view at IKOB through 16.04.2023. The exhibitions are curated by Frank-Thorsten Moll.

Hosted by Studio Néau.

Featured (sound)tracks:

Guerre froide - Demain Berlin

Henrike Naumann, Terror, 2012

Merle Vorwald, GGG BROADCAST: G1 (Ging nicht), G2 (Geht nicht), G3 (Geht doch), 2020

Badenweiler Marsch, Antifa-filtered by Sebastian

Vlaanderen - Renaat Veremans and Willem Gijssels

Vendelzwaaiers en wimpeliers Stoet Sagen en Legenden 18 september 1988, via YouTube

28.02.2023, 19:40, Brenda Guesnet

Besuch im Frans Masereel Centrum↓︎

Anfang Februar war ich beim Frans Masereel Centrum im flämischen Kasterlee eingeladen, um die dort residierenden Künstler:innen kennenzulernen. FMC ist ein Zentrum für zeitgenössische Kunst, welches auf „printed matter“ (Druckerzeugnisse) spezialisiert ist. Internationale Künstler:innen können dort fünf Wochen lang residieren und produzieren. Dafür steht ihnen technisches Equipment und Expertise zur Verfügung, um eine Reihe an Techniken durchzuführen: Tiefdruck, Siebdruck, Reliefdruck, Lithografie, Typo- und Digitaldruck (Riso, Laserschnitt, Drucker, etc.).

Das Zentrum ist wie ein kleines Dorf, von Feldern und Wald umgeben, und die Künstler:innen sind in dreieckigen, nach oben ragenden Bungalows untergebracht. Diese sind rund um das Hauptgebäude angeordnet, welches sowohl von außen als von innen durch seine runde, windmühlenartige Form auffällt. Kunstschaffende kommen aus unterschiedlichen Motivationen ins Zentrum: manche arbeiten schon seit Jahren mit den Druckmaschinen und wollen ihre Fähigkeiten hier vertiefen, andere kommen, um Grundkenntnisse aufzubauen oder zum Experimentieren.

Rinako Sonobe, eine gelehrte Druckmacherin und Architektin die ich hier treffe, produziert beeindruckende, schwarz-weiße Lithographien von abstrakten Landschaften. Aber die hauptsächliche Motivation für ihren Aufenthalt liegt auf der Metaebene: mithilfe eines Stipendiums reist sie zu verschiedenen Druckworkshops auf der ganzen Welt um die „Choreographie des Druckens“ künstlerisch zu erforschen.

Mithilfe von Zeichnungen, time-lapse Videos und Diagrammen arbeitet sie an einem “visuellen Wörterbuch”, welches die Bewegungen und Aktionen der Drucker:innen rundum die Anlagen dokumentiert. Im Frans Masereel Zentrum findet sie z.B. die kreisförmige Produktionsstätte faszinierend: die ungewöhnliche Architektur definiert sie wie man dort miteinander arbeitet und interagiert. Für Sonobe ist der Prozess des Druckens ein integraler Teil dieser Kunstform. Sie erfordert sowohl Präzision als Spielfreude, sie lebt gleichermaßen von Sachkenntnis und dem Unvorhersehbaren.

Sonobes Projekt lässt mich an meine Frustration bezüglich der aktuellen Debatte um künstliche Intelligenz und vor allem sogenannte “computer generierte Kunst” denken. Wenn Redakteur:innen fragen, ob durch Technologien wie openart.ai Künstler:innen bald obsolet sind, haben wir es mit einem großen Missverständnis über die Rolle von Kunstschaffenden in unserer Gesellschaft zu tun. Sie reduzieren künstlerische Praxis auf das Erstellen und Verstreuen von digitalen Bildern, die wir über unsere diverse Bildschirme konsumieren.

Was viele zu vergessen scheinen, ist, dass wir nach wie vor in einer materiellen, sinnlichen und körperlichen Welt leben. Die Texturen und Vibrationen einer Lithographie oder die Tiefe eines Pinselstrichs auf der Leinwand sind mehr als ein Datensatz: beides kann uns etwas sagen, aber eins ersetzt nicht das andere. Und niemand ist besser aufgestellt, uns durch Können und Kreativität neue Erfahrungen und Perspektiven zu eröffnen, als Künstler:innen. Hoffentlich bleiben uns die Orte, wo diese Begegnungen möglich werden, weiterhin erhalten.

https://fransmasereelcentrum.be/en/
https://www.wellesley.edu/news/2022/stories/node/197211

28.02.2023, 18:40, Frank-Thorsten Moll

Manifesta 14 in Pristina – Streunende Hunde und zerfallene Hotels↓︎

Die Kunstwelt nach Corona ist gleichzeitig auch die Kunstwelt nach der Documenta 15, die mit der Idee angetreten war, das Sprechen, Denken und Produzieren von Kunst aus einer anderen Perspektive als gewohnt zu erzählen. Der globale Süden war in Gestalt des Künstlerkollektivs Ruangrupa (Indonesien) eingeladen, ihre Sicht auf die Welt (und die Kunst) in Kassel zu präsentieren und – so muss man leider, einige Wochen nach Ende der selbsternannten Weltkunstausstellung feststellen – hatte nie wirklich eine Chance dies zu tun. Die Antisemitismusvorwürfe waren ein Platzhalter für einen wenig subtilen rassistischen und chauvinistischen Umgang mit den indonesischen Gästen, die man letztlich genau dafür kritisierte, wofür man sie eingeladen hatte – ihre nichtwestliche Perspektive.

Auch wenn der (speziell deutschsprachige) Feuilleton, angestachelt von zumeist älteren, männlichen Kritikern, nicht müde wurde, Angriffe gegen die kuratorische Leitung zu fahren, war der Besuch der Documente fifteen so angenehm und anregend, wie lange nicht. Die Ausstellungen wirkten undogmatisch, entspannt und letztlich muss man auch sagen erfrischend unkommerziell. Damit waren die wichtigsten Ziele der Kurator:innen eingelöst, was mehr ist, als die meisten Kurator:innen seit Okwui Enwezor nach Ablauf ihrer jeweiligen Documenta festhalten konnten. Mehr noch: Lokale und internationale Gruppen hatten es geschafft, 100 Tage mit fast gleichbleibender Intensität an gesellschaftlich relevanten Prozessen zusammenzuarbeiten. Mit einem Minimum an Hierarchie und Machtspielchen. Auch Venedig hatte es geschafft, einen inhaltlichen Abwärtstrend der kuratorischen Austauschbarkeit mit einer präzise kuratierten Ausstellung umzukehren.

Und die Manifesta? Sie hatte als letzte in der Reihe der Großausstellungen einen schweren Stand. Pristina, die Hauptstadt des Kosovo ist weder als Kunstmekka, noch als besonders unproblematisch bekannte Minimetropole bekannt. Als Staat fehlt dem Kosovo immer noch die Anerkennung der internationalen Staatengemeinschaft und firmiert daher als Quasi-Staat. Der Euro hat bequemer Weise die Deutsche Mark als Zahlungsmittel abgelöst, sodass man keine Fremdwährung eintauschen muss. Die Probleme der verschiedenen Minderheiten, allen voran, der serbischen Minderheit, aber auch die er Sinti und Roma, sind bis heute ungelöst und die Verhältnisse zum ehemaligen Kriegsgegner Serbien immer noch angespannt. Eine historisch schon immer schwächelnde Ökonomie trifft zwar auf die im Durchschnitt jüngste Bevölkerung Europas, aber die fehlenden Reise aka Visamöglichkeiten erhöhen natürlich den Druck. Diese Gemengelage erhöht natürlich den Druck für ein Gelingen der Manifesta, die vonseiten der Politik mit beiden Armen willkommen geheißen und mit viel Geld unterstützt wurde.

Das Kurator:innenteam, das gegen starke internationale Konkurrenz im Werben um Aufmerksamkeit antreten musste, versuchte daher alles richtigzumachen. Und schaffte zumindest vieles richtigzumachen. So schaffen sie es, die lokale Kunstszene zumindest so weit mitzunehmen, dass man beim Durchwandern der verschiedenen Ausstellungen regelmäßig auf Künstler:innen aus Pristina traf. Kooperationen mit lokalen Geschäften, um hier einmal mehr den Schlüsselservice zu nennen, mit lokalen Institutionen (Kino, Sternwarte) und vergessene und von der Geschichte abgestreift und liegen gelassenen Orte wiederzubeleben. Wie z. B. das Denkmal für die Opfer des 2. Weltkrieges aufseiten des jugoslawischen Wiederstandes, die zerbombte Schule auf den Hügeln vor der Stadt oder das ehemalige Grand Hotel in der Mitte der Stadt, als Hauptort der Manifesta.

Im zentralen Grand Hotel wurden sechs Stockwerke bespielt und jeder Stock einem Thema gewidmet. “On speculation”, “on love”, “on water”, “on migration” “on transition” und “on ecology” gaben eine Ordnung vor, die einerseits beruhigend und sinnstiftend wirken konnte, andererseits aber auch schnell als kuratorische Fleißarbeit wirken, die alle relevanten Themen abarbeitet.

Trotz dieses Einwandes wirkte die Manifesta durchdacht, brachte viele Themen der post-jugoslawischen Realität zur Sprache und vermittelte sehr gut, welchen Friktionen die Gesellschaft ausgesetzt war und noch immer ist. Dass bei all den guten Absichten manchmal die künstlerische Qualität auf der Strecke blieb, halten wir für verzeihbar, denn sie zeigte – ähnlich wie die Documenta – die Kunst als dringliche Sprache des Widerstandes gegen Ungerechtigkeit, Repression, Krieg und Idiotie.

Daran zu erinnern mag redundant erscheinen, aber ist angesichts der Geschehnisse in dieser Welt absolut relevant und wichtig. Aus diesem Grund und weil wir so viele spannende, widersprüchliche, geschundene, aber letztlich nie wirklich aufgegebene Orte sahen, war die Manifesta definitiv einen Besuch wert!

28.02.2023, 17:40, Brenda Guesnet

Podcast: Death of an Artist↓︎

Die renommierte Kuratorin und Kunsthistorikerin Helen Molesworth arbeitet in Form eines True Crime Podcasts die faszinierende, tragische, unaufgelöste Geschichte der Künstlerin Ana Mendieta auf. Mendieta wurde in den 1970er Jahren mit ihren “earth-body” Arbeiten bekannt und wird heute als eine der wichtigsten feministischen Künstlerinnen angesehen. Im Jahr 1985, mit 36 Jahren, starb sie durch einen Sturz aus ihrer Wohnung im 34. Stockwerk ihres Apartments in New York. Vieles weist darauf hin, dass ihr Ehemann Carl Andre, bis heute ein kanonischer Künstler des Minimalismus, ihren Sturz verursachte.

“Death of an Artist” geht nicht nur den Umständen des Todes auf den Grund, sondern zeigt anhand der persönlichen und künstlerischen Gegensätze zwischen Mendieta und Andre die Widersprüche der Kunstwelt auf — und wie die feministischen und antirassistischen Diskurse der letzten Jahre den Blick auf die heiligen Grale der Kunstgeschichte verändert haben.

https://www.pushkin.fm/podcasts/death-of-an-artist

01.02.2023, 17:35, Frank-Thorsten Moll

Documenta 15 – vom Scheitern des Feuilletons und dem eigentlichen Problem↓︎

Als wir die Preview der Documenta 15 besuchten, spürten wir, dass etwas grundlegend anders war als bei allen anderen Previews dieser vermeintlich immer noch „wichtigsten Kunstausstellung der Welt“. Schon die Wahl des Eröffnungstermins war verwirrend – am selben Tag wie die Art Basel zu eröffnen und dann auch noch am selben Tag wie die Berlin Biennale, löste zumindest bei den älteren Besucher:innen der Preview Befremden aus. Jede:r war zu einer Entscheidung gezwungen gewesen und viele hatten sich offensichtlich an diesem Wochenende gegen die Documenta entschieden. Dass der Kunstmarkt es schwer haben würde, sich zwischen Basel und Kassel zu zerreißen, war schon vor Beginn zu vermuten gewesen, sodass das Fehlen der Galerist:innen und Sammler:innen nicht weiter wunderte. Die entspannte Gelassenheit der ersten Tage war unserer Meinung nach aber auch auf genau diesen Umstand zurückzuführen. Die Verantwortlichen der Documenta hatten dadurch schon einige Steine im Brett. Derart lässig über unumstößlich geglaubte Strukturen hinwegzugehen, verrät ein Maß an Angstfreiheit oder Naivität, konnten nur unseren Respekt provozieren.

Als die ganze Antisemitismusdebatte sich kurz nach der Eröffnung Bahn brach, merkte man jedoch, dass das Konzept der Angstfreiheit gepaart mit einer Prise Naivität sich auch rächen konnte. Es gibt in diesem ganzen Skandal leider wenig zu beschönigen. Die Documenta GmbH reagierte provinziell und überfordert, was nicht wundert, wenn man bedenkt, dass der Hauptgesellschafter die Stadt Kassel ist und ein Bürgermeister einer mittelgroßen Stadt mit allenfalls mittelgroßer Bedeutung eben auch nur im besten Fall mittelgroße Eloquenz an den Tag legen muss, um im Alltag durchzukommen. Um einen derartig komplexen Clusterfuck zu managen, braucht es jedoch mehr als das. Es braucht auch mehr als eine Geschäftsführerin, die die beleidigte Leberwurst besser verkörperte als die Krisenmanagerin, die eigentlich ins Drehbuch geschrieben hätte werden sollen. Dass danach alte weiße Männer mit Erfahrung es auch nicht viel besser machen, ist zumindest eine Erkenntnis, die die politischen Entscheider aller Orten ganz genau betrachten sollten, wenn sie einmal in eine ähnliche Situation kämen.

Auch die total überforderten Mitglieder des Kollektivs Ruangrupa sind allenfalls zu bemitleiden. In erster Linie dafür, wie wenig sie sich auf die deutschen Befindlichkeiten vorbereiten konnten. Ja sicher, es ging um Antisemitismus, aber wir denken, dass dies nur ein vorgeschütztes Thema war. Sorry, in Deutschland werden Synagogen mit Sturmgewehren angegriffen, Politiker mit Kopfschüssen hingerichtet, Mitbürger:innen in ihren Geschäften erschossen, ohne dass Verfassungsschutz, Polizei oder Zivilgesellschaft sich adäquat empören, aber wenn ein Bild auf der Documenta 15 antisemitische Inhalte aufweist, fällt der Kulturjournalismus wie eine Bestie über die „Schuldigen“ und veranstaltet Tribunale.

Was uns daran am meisten aufstieß war die Selbstgerechtigkeit und die Protzerei, mit der „wir“ „denen“ erklären wollten, wie man Antisemitismus erkennt und wie man ihn bekämpft und wie wenig Toleranz man in diesem einen Fall haben darf. Es fiel uns nichts anderes ein, als darin eine fremdenfeindliche und kolonialistische Haltung zu erkennen, die unser Verhältnis zur nicht-westlichen Welt bis heute konstituiert. Wer unsere Traumata nicht zu den seinen:ihren macht, ist barbarisch.

Seltsam! Hatte man nicht extra aus dem Grund endlich mal nicht nur etwas über den Globalen Süden, sondern vom globalen Süden zu lernen? Hätte darin nicht eine große Chance gelegen? Oder wie der ehemalige Bürgermeister Kassels und SPD Politiker Hans Eichel zu paraphrasieren: Wäre es nicht angebracht gewesen, sich erst einmal für die Unterstützung des Suharto Regimes in Indonesien durch Helmut Kohls Regierung, den BND und andere westliche Geheimdienste zu entschuldigen und dann ins Gespräch zu kommen, wie genau das Skandal auslösende Großplakat gemeint gewesen sei. Aus „von den anderen lernen“ wurde wiedermal ein „es den anderen erklären“. Die Documenta ist kein Ort für den globalen Süden! Warum? Weil eine Reflexion über die Möglichkeit eines Dialogs von vorneherein sabotiert worden war.

Womit wir zum eigentlichen „Problem“ der Documenta 15 kommen – ihrer Unkonsumierbarkeit und ihrer generellen Verweigerungshaltung gegenüber den Mächten des Marktes, die sich nicht in Opposition aufrieb, sondern freudvoll an Alternativen arbeitete. Das Ergebnis war eine Selbstvermarktungskultur, die Künstler:innen Geld direkt zugutekommen ließ und dabei genossenschaftliche Strukturen förderte. Konzepte wurden entwickelt, die direkte Demokratie erlebbar machte und die Verschmelzung mit den Organisationen der Stadt, die Workshops von Tag 1 bis Tag 100 anboten – das war die Saat, über die man hätte sprechen sollen.

Gut nur, dass die Erfahrungen der meisten Besucher:innen nichts mit Antisemitismus zu tun hatte, sondern mit einem freudvollen Beobachten und einer Akzeptanz, dass hier etwas grundlegend anderes versucht wurde.

Wir denken, dass man die Documenta 15 als gescheitert bezeichnen kann. Aber nur, weil die Documenta eine zum Scheitern verurteile, anachronistische und unheilbar kranke Institution ist, die nicht von Ruangrupa – und von niemandem – gerettet werden kann. Ruangrupa ist jedoch keines Falls gescheitert, weil sie gezeigt haben, dass Alternativen machbar sind. Nicht von ungefähr werden sie von Monopol und Co. im Jahresrückblick auf allen Listen der einflussreichsten Künstler:innen ganz oben geführt.

Dass speziell das deutsche Feuilleton (Ausnahmen bestätigen die Regel) dies nicht sehen wollte und Antisemitismus gegen Postkolonialismus auszuspielen versuchte, ist unserer Meinung nach der eigentliche Skandal!

09.01.2023, 12:00, Lara Duyster

Kontraste in der Duisburger Innenstadt: Bernar Venet demonstriert mit seinem Kunstwerk "5 Bögen" ein Artefakt voller Gegensätze.↓︎

Mitten in der Duisburger Innenstadt, am Opernplatz vor dem Stadttheater, steht das Werk 5 Bögen von dem französischen Künstler Bernar Venet. Die rostbraune Farbigkeit des Stahls sticht aus dem Grün des Rasens und der hellen Fassade des Stadttheaters hervor. Venet hat die Maße der Bögen eingraviert und somit in das Kunstwerk integriert. Diese rationale Vorgehensweise führt zu einer Verallgemeinerung. Die unfigürliche Darstellung und das Fehlen von emotionalen Elementen, lassen dem Betrachter einerseits kaum Raum für Interpretationsansätze, da es sich ganz nach der Devise "Die Kunst für die Kunst" selbst darstellt.

Andererseits ähnelt es einem Skelettfragment aus jüngerer Zeit und deutet auf etwas hin, was längst vergangen ist. In Duisburg wird somit die sterbende Schwerindustrie angesprochen. Zechen schließen und Industriearbeitsplätze fallen weg. Der Standort des Werks zwischen Gastronomie, Kultur und Einkaufszentren spielt auf die neuen Perspektiven an, die der Stadt geboten werden. Der explizite Standort vor dem Stadttheater verbindet durch seine Nachbarschaft Musik und Schauspiel miteinander. Die Dynamik der Rundbögen, welche Kraft und Spannung hervorrufen, ermöglichen dem Betrachtenden eine metaphorische Zusammenführung der beiden Künste. Die Offenheit der Bögen schaffen Platz für spielerische Gedankengänge. "Farbe interessiert mich nicht so sehr. Ich wollte niemandem eine Farbe aufzwingen, um es mal anders auszudrücken.", so der Künstler. Die braune Farbigkeit entsteht durch den Rost des Stahls. Es ist alles in seiner Natürlichkeit erhalten geblieben, um nicht von der Kraft der Form abzulenken.

Die alte, neoklassizistische Fassade des Stadttheaters steht in direktem Kontrast zu der modernen Darbietung der Bögen. Venet möchte darauf Aufmerksam machen, dass Duisburg viel mehr ist, als eine Stadt, die lediglich vom Stahlbau lebte und lebt. Die direkte Verknüpfung von Stahl und Kunst spiegelt dies wider. Der Blick des Betrachters wird von der Installation unmittelbar zum Theater gelenkt.

Der 1941 geborene Künstler widmete sich vom zehnten Lebensjahr an der Malerei und studierte in Nizza an der städtischen Schule für Gestaltende Kunst. 1971 zog sich Venet von der künstlerischen Tätigkeit zurück und konzentrierte sich auf kunsttheoretische Fragen. Fünf Jahre später nahm er seine Arbeiten wieder auf und siedelte 1966 nach New York um.